Karin Wenger* war in den Sommerferien in Thailand, als sie merkte, dass mit ihrem Körper etwas nicht stimmte: Trotz des guten Essens hatte sie kaum Appetit. Bis dahin hatte die heute 55-Jährige immer etwas auf ihre Linie achten müssen, um ihr Wunschgewicht zu halten, doch nun nahm sie plötzlich innert kurzer Zeit mehrere Kilogramm ab. Als ein stärker werdender Husten hinzukam und sie nach ihrer Rückkehr den Hausarzt aufsuchte, entdeckte dieser auf dem Röntgenbild ihrer Lunge etwas, was da nicht hingehörte, und überwies Wenger ans Universitätsspital Basel.
Es folgte Abklärung auf Abklärung, Ende Oktober 2014 stand die Diagnose fest: Auf Wengers Lunge wuchs ein bösartiger Tumor, ein sogenannt Nicht-kleinzelliges Bronchialkarzinom, das bereits einen Lymphknoten befallen und Metastasen auf der Nebenniere gebildet hatte. "Mein erster Reflex war: Das Ding muss sofort raus", erinnert sich Wenger. Doch obschon der Tumor mit rund drei Zentimetern Durchmesser relativ klein war, kam eine Operation nicht in Frage - zu nah lag er an den Atemwegen.
Eine starke Chemotherapie liess die bösartigen Zellen ein bisschen zurückgehen, eine etwas weniger starke Erhaltungstherapie sollte den in Schach halten. Doch dann geschah etwas, was bei dieser Art Krebs früher oder später fast immer geschieht: Er wurde gegen die Medikamente resistent und wuchs weiter. So stark, dass Wenger Ende März 2015 plötzlich kaum noch Luft bekam. Um ihre Atemwege zu stützen und bis auf weiteres offenzuhalten, wurden ihr umgehend Stents eingesetzt, eine Art Röhrchen aus feinem Drahtgitter. Der Primärtumor in der Lunge wurde im April mehrfach bestrahlt, um sein rasantes Wachstum zumindest für den Moment aufzuhalten. Wengers Körper reagierte stark, eine chronische Lungenentzündung und 41 Grad Fieber fesselten sie vier Wochen lang ans Bett, erst hohe Dosen Kortison und Antibiotika brachten Linderung. Einmal mehr stellte sich die Frage: Wie weiter?
Krebszellen erkennenAlfred Zippelius, der stellvertretende Chefarzt Onkologie am Universitätsspital Basel, der Wenger von Anfang an begleitete, stellte sie vor die Wahl: Ein weiterer Zyklus Chemotherapie, verbunden mit starken Nebenwirkungen und der Chance von lediglich 10 bis 15 Prozent, dass sie darauf ansprechen wird. Oder aber den Versuch wagen, den Krebs mit Hilfe einer Immuntherapie einzudämmen. Eine Chemotherapie hat zum Ziel, mit Hilfe giftiger Substanzen möglichst viele Krebszellen abzutöten - mit der Nebenwirkung, dass auch gesunde Körperzellen absterben.
Die Immuntherapie dagegen zielt nicht direkt auf den Krebs. Vielmehr versucht sie, das Immunsystem des Patienten zu befähigen, Krebszellen zu erkennen und selbst mit ihnen fertig zu werden. Auch hier kann es zu Nebenwirkungen kommen, denn manchmal greift das entfesselte Immunsystem anstelle des Krebses auch den eigenen Körper an, was beispielsweise zu Hautausschlägen oder zu mitunter gefährlichen Entzündungen von Lunge, Darm, Leber oder Schilddrüse führen kann.
Dennoch ist die Immuntherapie vielversprechend: Das Fachmagazin "Science" erklärte sie 2013 zum "Durchbruch des Jahres". Auch Alfred Zippelius spricht von einem Durchbruch, auf den man in der Onkologie lange gewartet habe. Zwar räumt er ein: "Leider kann die Immuntherapie bisher nur einer Minderheit von Patienten helfen." Bei Lungenkrebs sind es 20 bis 25 Prozent, bei anderen Krebsarten zwischen 30 und 40 Prozent, bei denen eine Immuntherapie wirkt. Und es gibt auch Krebsarten wie etwa Bauchspeicheldrüsenkrebs, bei denen man damit bisher gar keine Erfolge erzielt hat. Alfred Zippelius betont aber: "Diejenigen Patienten, die auf eine Immuntherapie ansprechen, sprechen oft dauerhaft an. Bei manchen verschwindet der Tumor ganz, bei manchen wächst er einfach nicht mehr weiter. "Lange waren wir Immunologen Aussenseiter in der Onkologie", sagt Daniel Speiser, Arzt und Immunologeiter. Bei Krebsarten wie Haut- oder Lungenkrebs, die vorher ein sicheres Todesurteil waren, gibt es nun Patienten, die nach fünf bis zehn Jahren noch immer am Leben sind."
Dass der Körper selbst mithelfen kann im Kampf gegen Krebs, ist keine neue Erkenntnis. Bereits in den 1890er-Jahren beobachtete der New Yorker Chirurg William Coley, dass Sarkome - bösartige Tumore des Bindegewebes - bei einzelnen Patienten wieder verschwanden, nachdem diese eine bakterielle Infektion mit hohem Fieber durchgemacht hatten. In der Folge injizierte er abgetötete Bakterien direkt in die Tumoren seiner Patienten und bewirkte so bei manchen eine Heilung. 1909 äusserte der deutsche Mediziner und Forscher Paul Ehrlich die These, dass das menschliche Immunsystem Krebszellen erkennen und zerstören könne.
Danach verstrichen jedoch gut 100 Jahre, bis das erste immuntherapeutische Medikament auf den Markt kam. Jahrzehntelang tüftelten Forschende im In- und Ausland an verschiedenen Ansätzen, ohne dass es zum erhofften Durchbruch kam. "Lange waren wir Immunologen Aussenseiter in der Onkologie", sagt Daniel Speiser, Arzt und Immunologe am Ludwig Cancer Research Center und am Departement für Onkologie der Universität Lausanne. Er ist seit den 1980er-Jahren am Thema dran, als einer der Ersten in der Schweiz.
Erste ErfolgeVon kritischen Stimmen und Zweiflern liess er sich nicht beirren. Bereits als junger Arzt am Universitätsspital Genf hatte er mit eigenen Augen gesehen, welch zentrale Rolle das Immunsystem bei Leukämiepatienten spielt: Nach einer Knochenmarktransplantation habe er mehrfach Patienten gesehen, die ohne Behandlung in Kürze gestorben wären, weil sie so voll mit Leukämiezellen waren. "Doch das Gegenteil trat ein: Innert Tagen töteten die Immunzellen des Spenders die Leukämiezellen ab, und die Patienten wurden wieder gesund." Seither beschäftigt ihn die Frage, wie man im Kampf gegen Krebs die Kräfte des Immunsystems auch ohne Transplantation nutzen könnte.
Williard Neals litt an fortgeschrittenem Lungenkrebs: Nachdem der Tumor bestrahlt worden war, erhielt der Amerikaner alle zwei Wochen eine Immuntherapie, die den Tumor zerstörte. Foto: Getty Images Erste Erfolge zeichneten sich vor rund zehn Jahren im Kampf gegen den Schwarzen Hautkrebs ab. Da bei dieser Krebsart klassische Behandlungen wie Chemo- und Strahlentherapie nur wenig bis gar nichts bewirken, sei man hier immer offen gewesen, neue Ansätze auszuprobieren, sagt Reinhard Dummer, Leiter des Hauttumorzentrums am Universitätsspital Zürich. "Ich habe mehrere tausend Patienten in klinischen Studien behandelt, ohne dass sich Erfolge zeigten." Mit Einführung der neuen Immunantikörper habe sich das geändert. Kurz nach der Jahrtausendwende habe er begonnen, erste Patienten in klinischen Studien damit zu behandeln. "Die Wirksamkeit zeigte sich nicht sofort. Aber nach mehreren Jahren stellten wir fest, dass etwa 20 Prozent der Patienten noch lebten, in der Kontrollgruppe waren es nur 2 bis 5 Prozent."
2011 wurde in der Schweiz der erste immuntherapeutische Wirkstoff zur Behandlung von Schwarzem Hautkrebs zugelassen, unterdessen sind es bereits mehrere. Patienten mit Schwarzem Hautkrebs, Kopf- und Halstumoren, Nieren-, Blasen- und Lungenkrebs werden heute an Schweizer Spitälern mit Immuntherapie behandelt. Je nach Krebsart ist sie Ersttherapie oder kommt begleitend oder nach einer Chemotherapie zum Einsatz.
Im Frühling 2015, als Karin Wenger vor der Frage stand, wie es weitergehen sollte, war in der Schweiz nur ein einziger Wirkstoff auf dem Markt. Und dieser war erst zur Behandlung von Schwarzem Hautkrebs zugelassen. Für Lungenkrebspatienten liefen damals mehrere klinische Studien, an denen Wenger hätte teilnehmen können. "Das kam für mich aber nicht in Frage", sagt sie. "Ich wollte nicht das Risiko eingehen, der Kontrollgruppe zugeteilt zu werden und nur eine Standard-Chemotherapie zu erhalten." Die einzige Möglichkeit, die ihr blieb, war, das zugelassene Medikament aus eigener Tasche zu bezahlen.
Mit rund 10'000 Franken pro Infusion, die alle zwei Wochen verabreicht wird, eine sehr teure Option. "Als Herr Zippelius und der Lungenspezialist damals an meinem Bett standen, fragte ich sie, was sie an meiner Stelle tun würden. Herr Zippelius sagte, er würde den Mercedes verkaufen, den er nicht habe. Ich antwortete, dass ich, wenn nötig, den BMW verkaufe, den ich habe. Ich hätte wohl fast alles getan, um diese Behandlung zu bezahlen. Diese kleine Chance auf ein Stück mehr vom Leben."
Die Gesellschaft muss entscheidenHeute übernehmen die Krankenkassen die Behandlung einer Immuntherapie auch bei Lungenkrebs. Doch die hohen Kosten der neuen Krebsmedikamente bleiben ein ungelöstes Problem. "Die Behandlung eines einzigen Patienten kann schnell mal 100'000 Franken im Jahr kosten", sagt Onkologe Alfred Zippelius. "Wenn mehrere Medikamente kombiniert werden, sogar ein Vielfaches davon. Damit werden wir unsere Krankenkassen massiv belasten." Der Lausanner Immunologe Daniel Speiser sagt: "Wir müssen diese teuren Therapien einsetzen, weil wir damit Leben retten können. Aber wie wir das bei den aktuellen Preisen in ein paar Jahren noch machen können, ist ungewiss."
Zur Diskussion stehen unter anderem neue Tarifmodelle, sodass etwa teure Medikamente nur dann bezahlt werden müssen, wenn sie auch tatsächlich wirken und das Leben eines Patienten verlängern. "Pharmaindustrie und Gesundheitswesen müssen dringend enger zusammenarbeiten, damit die weitere Entwicklung besser koordiniert wird und die Kosten besser überblickt werden können", sagt Daniel Speiser.
Die Wissenschaft forscht derweil intensiv an sogenannten Biomarkern, also Genen, Molekülen oder Zellen, aufgrund deren man eine Prognose abgeben kann, wie sich eine Krankheit entwickelt oder ob ein Medikament wirkt. "Derzeit haben wir noch keine Möglichkeit, klar vorauszusagen, wer von einer Immuntherapie profitieren wird und wer nicht", sagt Ulf Petrausch, Onkologe und Immunologe am OnkoZentrum Zürich. "Bei gut 60 Prozent der Patienten werden die teuren Medikamente umsonst eingesetzt."
Würden künftig nur noch Patienten mit Immuntherapie behandelt, die tatsächlich davon profitieren, würde dies den Patienten Nebenwirkungen und den Krankenkassen hohe Kosten ersparen. Aber weder Wissenschaft noch Ärzte könnten das Kostenproblem lösen, sagt Petrausch: "Letztendlich muss die Gesellschaft entscheiden: Wollen wir unseren Erkrankten diese neuen, teuren Medikamente zukommen lassen?Und wenn sie das mit Ja beantwortet, dann müssen wir uns darauf einstellen, dass die Gesundheitskosten weiter steigen werden."
Karin Wenger musste ihre Immuntherapie schliesslich doch nicht aus eigener Tasche bezahlen. Ein Pharmaunternehmen hatte eben ein Early-Access-Programm für ein noch nicht zugelassenes Medikament lanciert, Alfred Zippelius meldete Wenger und weitere seiner Lungenkrebspatienten an. Und bereits wenige Wochen später kam die Zusage. Ende Mai 2015 tröpfelte am Universitätsspital Basel die erste Dosis des Wirkstoffs in Wengers Venen. Die Nebenwirkungen empfand sie als ähnlich wie die der Chemotherapie; sie traten weniger geballt, dafür auch noch nach Monaten neu auf: eine lähmende Müdigkeit, Magen-Darm-Probleme, Gelenkschmerzen. Ihre Schilddrüse entzündete sich und gab die Funktion auf. Aber auch der Krebs reagierte: Schon im Juli waren die Metastasen deutlich zurückgegangen.
Nach weiteren Monaten waren sie vollständig verschwunden, und bis heute sind sie nicht zurückgekehrt. Und dies, obschon Wenger die letzte Infusion im Februar 2017 erhalten hat. Ihre Lunge ist von der Strahlentherapie stark vernarbt und daher nicht einfach zu beurteilen, doch bis heute scheint sich der Krebs auch dort still zu verhalten. Wengers Immunsystem hält ihn nun selbst in Schach.
Mit Nebenwirkungen leben gelernt
"Die Müdigkeit setzt mir bis heute zu", sagt Wenger. Sie braucht heute zehn Stunden Schlaf jede Nacht, muss sich auch am Nachmittag nochmals hinlegen, sie kann sich nicht mehr lange am Stück konzentrieren, braucht für alles länger als früher. Und die Stents in ihren Atemwegen sind unterdessen eingewachsen, dahinter sammeln sich Sekret und Bakterien, sodass Wenger chronisch Husten und Entzündungen hat.
"Aber ich lebe", sagt sie. "Auf die Nebenwirkungen kann ich mich einstellen." Und sie fügt an: "Ich war halt eine der ersten Lungenkrebs-Patientinnen der Schweiz, die eine Immuntherapie bekamen. Als man mir die Stents einsetzte, hat wohl niemand damit gerechnet, dass ich damit so lange überlebe. Und ohne sie wäre ich damals innert kürzester Zeit erstickt, sie sind meine Lebensretter."
* Name geändert(Schweizer Familie)
Erstellt: 23.07.2018, 20:34 Uhr