1 subscription and 0 subscribers
Article

Scientifica präsentiert «sehenden Stock»

Eine Baggerschaufel auf Kopfhöhe, die angehobene Laderampe eines Lastwagens oder ein Strassenschild auf dem Trottoir: Unsere Städte sind voller Hindernisse, denen Sehende mühelos ausweichen können, die sich mit einem Blindenstock aber nicht ertasten lassen. Das hat für Blinde und Sehbehinderte oft schmerzhafte Zusammenstösse zur Folge.

Dem können Forscher der ETH Zürich abhelfen: Sie haben einen Blindenstock entwickelt, der Hindernisse rechtzeitig «sehen» und blinde Menschen warnen kann.  Sie präsentieren den Stock erstmals an den Zürcher Wissenschaftstagen «Scientifica
2012» (siehe Box).
Die ETH-Erfindung wird willkommen sein. «Die Kante eines Verbotsschildes mitten im Gesicht, das spürt man!», weiss Daniele Corciulo aus eigener Erfahrung. Der 27-Jährige ist von Geburt an stark sehbehindert und auf einen Blindenstock angewiesen, um von A nach B zu gelangen. Da er an neuen Technologien sehr interessiert ist, setzt er sich bei der Stiftung «Zugang für alle» dafür ein, dass das Internet und andere Technologien auch für Blinde und Sehbehinderte nutzbar sind. Und er war sofort dabei, als Forscher der ETH Zürich die Stiftung für Zusammenarbeit anfragten.

Sehen dank Vibrationen

Das von der Kommission für Technologie und Innovation  unterstützte Projekt: Einen Blindenstock entwickeln, der Hindernisse auf unterschiedlichen Höhen erkennt und die Nutzer frühzeitig davor warnt. Nach mehrjähriger Arbeit liegt nun der erste Prototyp vor. Der «sehende Blindenstock» ist mit einer 3D-Kamera ausgerüstet, welche die Firma MESA Imaging AG speziell dafür entwickelt hat. Sie erkennt Hindernisse auf eine Distanz von bis zu 10 Metern. Taucht eines auf, meldet der Stock das mittels Vibrationssignalen. Rhythmus und Intensität der Vibration variieren je nach Höhe und Entfernung des gesichteten Objekts.

Um diese Vibrationen so zu gestalten, dass sie für Blinde möglichst intuitiv und leicht lernbar sind, waren die Entwickler auf Daniele Corciulo und weitere Sehbehinderte und Blinde angewiesen: Sie haben an Tests immer wieder Rückmeldung gegeben, wie gut sie die Signale entschlüsseln konnten.

Stock soll Parkbank suchen

Auch bezüglich Ergonomie und Alltagstauglichkeit lieferten sie Inputs, welche die Zürcher Hochschule der Künste dann im Design umsetzte. «Uns war es wichtig, die Bedürfnisse der künftigen Anwender von Anfang an zu kennen», sagt Projektleiter Roger Gassert, Assistenzprofessor am Institut für Robotik und Intelligente Systeme der ETH Zürich. Wo möglich, hätten sie diese auch berücksichtigt. So sei ein Wunsch gewesen, dass man mit dem Stock im Park nach einer Bank Ausschau halten könne.

Gleichzeitig sollte der Stock beim Gehen nicht unnötig häufig vibrieren. Deshalb hat der sehende Blindenstock nun zwei Modi: Im Schwingmodus zeigt er nur Hindernisse in einem vertikalen Streifen in Gehrichtung an. Möchte man aber verweilen und sich ein Bild der Umgebung verschaffen, kann man den Scanmodus wählen. Dann tastet der Stock die Richtung ab, in die er gezeigt wird. «Man kann sich das vorstellen wie bei einer Taschenlampe – da wird auch jeweils sichtbar, was im Lichtkegel ist», erklärt Gassert.

Fit für den Alltag?

Für Corciulo ist vor allem wichtig, dass der Akku mindestens einen ganzen Tag lang hält, dass der Stock nicht zu schwer ist, aber dennoch stabil. Denn er muss im Alltag einiges aushalten: Nicht selten ziehe jemand einen Rollkoffer darüber. «Im Extremfall landet der Stock sogar unter den Rädern eines Autos, wenn der Fahrer mir den Vortritt nicht lässt», sagt Corciulo.

Dass der sehende Blindenstock diese Anforderungen im Alltag tatsächlich erfüllen kann, hat er noch nicht bewiesen. Bisher hat Carciulo ihn nur im Hindernisparcours getestet, den die Forscher innerhalb der ETH angelegt haben. «Dort konnte ich mit dem Stock schneller und sicherer gehen als mit dem normalen Blindenstock», sagt er. Ob das auch im realen Alltag der Fall ist, werden er und weitere Freiwillige in den kommenden Monaten testen. Dann wird sich zeigen, ob der Stock jede Art von Hindernis verlässlich anzeigt, und wo man noch nachbessern muss. Denn Gassert weiss: «Wenn der Stock ein paar Mal falsche Informationen gibt, vertrauen die Anwender ihm nicht – und lassen ihn zu Hause». Einen Blindenhund werde der Stock auch bei perfektem Funktionieren nicht ersetzen, sagt Gassert. Aber der Mehrzahl der Blinden, die keinen hat, soll er helfen, sicher von A nach B zu gelangen – ohne die Angst, mit dem Kopf gegen eine Baggerschaufel zu prallen.

Box: Scientifica 2012: Selber probieren

Wer den sehenden Blindenstock gern ausprobieren möchte, der kann dies tun an der Scientifica – den Züricher Wissenschaftstagen: Im Hauptgebäude der ETH Zürich kann man damit einen Parcours durchlaufen und verschiedene Hindernisse «erfühlen».

Samstag, 1. September, 13 bis 20 Uhr und Sonntag, 2. September, 11 bis 17 Uhr. ETH Zürich, Rämistrasse 101, Stand W3.

Mehr Infos zu den Zürcher Wissenschaftstagen:

www.scientifica.ch


(Erschienen am Dienstag, 28. August 2012 in der Aargauer Zeitung)

Bild: Daniele Corciulo testet den neuen Blindenstock. Dieser erkennt die gelb eingefärbte Treppe als Hindernis und meldet das mit einem Vibrieren. Aufgenommen und bearbeitet von:STEFAN SCHNELLER, ZÜRCHER HOCHSCHULE DER KÜNSTE.