Lena Weiß hat das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen. So steht es im Grundgesetz. Das nützt ihr nur nichts, denn Lena Weiß will Ärztin werden. Deswegen hängt ihr Leben seit sieben Jahren in der Warteschleife.
2006 machte die heute 27-Jährige in Bonn ihr Abitur, Note 2,4. Nicht schlecht, aber viel zu schlecht für ein Medizinstudium. "Damals brauchte man acht Wartesemester", sagt sie. "Ich dachte, alles klar, mach eine Ausbildung, arbeite ein Jahr und dann geht's los."
Vier Jahre vergingen, sie lernte Krankenschwester, arbeitete auf der Intensivstation, und immer mehr Menschen wollten Medizin studieren. Dadurch verlängerte sich die Wartezeit. Vergangenes Jahr bekam Weiß mit zwölf Wartesemestern keinen Studienplatz.
Eine 1,0 im Abi muss es schon sein
Das Studium der Medizin ist in Deutschland zu einem exklusiven Club geworden: In den vergangenen zehn Jahren haben sich die Bewerberzahlen verdoppelt, und weil die Anzahl der Studienplätze fast gleich geblieben ist, ist der Numerus clausus (NC) in astronomische Höhen geschossen. Vergangenes Jahr schaffte es ein Abiturient mit der Abschlussnote 0,7 nicht an die Uni Heidelberg. Er hatte Los-Pech.
20 Prozent der Studenten werden über die sogenannte Abiturbestenquote ausgewählt - vor ein paar Wochen veröffentlichte die Plattform hochschulstart.de die aktuellen Zahlen: In zwölf von 16 Bundesländern brauchten Bewerber ein 1,0-Abitur, um direkt zugelassen zu werden. Weitere 20 Prozent der Studenten bekommen über die Wartesemester einen Platz. Die restlichen 60 Prozent der Plätze vergeben die Universitäten selbst, allerdings mit der Vorgabe, dass die Abiturnote eine herausragende Rolle spielen muss.
Manche Universitäten versuchen, zusätzliche Kriterien wie einen separaten Medizinertest oder eine medizinische Berufsausbildung mit in die Auswahl einzubeziehen. Es gibt das Losverfahren und Hunderte Extra-Klauseln, die das Verfahren verkomplizieren, aber häufig sind das nur kosmetische Korrekturen.
Wer heute in Deutschland Medizin studieren will, hat faktisch zwei Möglichkeiten: entweder ein Abitur von mindestens 1,5 machen oder sehr lange warten. Idealisten, die nach dem Abitur - eventuell durch ein freiwilliges soziales Jahr - den Wunsch entwickeln, als Arzt Menschen zu helfen, haben kaum noch eine Chance.
Wer sich heute bewusst für eine Karriere als Mediziner entscheiden will, muss das in Zeiten von G8 im Prinzip vor dem Eintritt in die gymnasiale Oberstufe tun, in manchen Bundesländern also mit 15 Jahren, mitten in der Pubertät. Wer dagegen die volle Wartezeit ausschöpft, ist am Ende des Studiums Mitte 30, bevor er oder sie ins erste Berufsjahr startet. Familienplanung ist da schwierig.
"Für viele ist das praktische Jahr ein Kulturschock"
Frank Ulrich Montgomery, 61, ist mit dieser Entwicklung nicht zufrieden. Er ist Präsident der Bundesärztekammer und fordert, das aktuelle System zu reformieren."Wir brauchen nicht nur im akademischen Bereich, sondern auch im zwischenmenschlichen Umgang gute Leute." Die sozialen Kompetenzen würden bei der Auswahl unzureichend abgefragt, ein Arzt müsse aber über das fachliche Wissen hinaus noch mehr Dinge können, sagt er.
Zwischen dem Abschluss des Studiums und der eigentlichen Krankenversorgung gebe es einen großen Schwund. "Für viele ist das praktische Jahr im Krankenhaus ein Kulturschock", sagt Montgomery. Er fordert eine Art Assessment-Center für Bewerber.
Das könne man bundesweit durchführen, einmalig würde es um die 40 Millionen Euro kosten. Weil sich viele mehrfach bewerben, würden die Kosten in den darauffolgenden Jahren sinken. "Bei großen Unternehmen ist das Standard. Warum soll es nicht für Medizinstudenten geeignet sein?", sagt er.
Am Hamburger Uni-Klinikum Eppendorf gibt es bereits eine Art Assessment-Center. In verschiedenen Stationen müssen Bewerber Krankenhaussituationen meistern, in denen Schauspieler Patienten spielen. "Das Verfahren kommt gut an", sagt Wolfgang Hampe, der am Uni-Klinikum mit für die Auswahl der Studenten zuständig ist und mehrere Publikationen zum Thema verfasst hat. Allerdings könne man kaum nachweisen, ob die, die beim Test gut abschneiden, nachher auch bessere Ärzte werden.
Außer Hamburg bieten noch Dresden, Münster und die Privat-Uni Witten/Herdecke vergleichbare Auswahltests an. Die anderen Unis in Deutschland, die Medizin anbieten, bleiben mehr oder weniger bei klassischeren Verfahren, bei denen eine Eins in Erdkunde und Musik manchmal mehr zählt als eine Ausbildung zum Rettungssanitäter.
"Die Abiturnote ist immer noch der beste Indikator, um einen Studienerfolg vorherzusagen", wendet Hampe ein. Wer ein gutes Abitur hat, bricht das Studium seltener ab. Von den 20 Prozent, die über die Wartezeit an seine Uni kommen, beendet fast ein Drittel das Studium nicht. Wer lange aus der Schule draußen ist, der verlernt sozusagen das Lernen, sagt Hampe.
Ein anderes Studium darf der Bewerber nicht aufnehmen, weil ihm die Zeit sonst nicht als Wartesemester angerechnet wird. Viele müssten in dem Alter auch selbst Geld verdienen, sagt Hampe. Die Zeit fehle dann zum Studieren.
Geschäftsmodelle rund ums Medizinstudium
Die Auswahl zum Medizinstudium ist auch eine soziale Auswahl. Fast drei Viertel aller Medizin-Studenten kommen aus einem akademischen Elternhaus, in keinem anderen Fach ist die Quote so hoch. Bei 22 Prozent ist mindestens ein Elternteil selbst Arzt, das geht aus einem Bericht des Hochschul-Informations-Systems (His) hervor ( Bericht hier als PDF).
Rund um das Medizinstudium haben sich ganze Geschäftsmodelle entwickelt. Agenturen bieten Beratungen an, wie man sich am besten auf einen Studienplatz bewirbt: für bis zu tausend Euro. Bei Anwaltskanzleien kann man einen Studienplatz für 1300 Euro pro Uni einklagen, Erfolg ist nicht garantiert. Im Ausland, zum Beispiel in Ungarn oder Rumänien, bieten Universitäten Medizinstudiengänge in deutscher Sprache an, Kosten: 6000 Euro pro Semester. Bei der Bewerbung wird unter anderem der Beruf der Eltern abgefragt. Die Universität will sichergehen, dass der Student die Studiengebühren rechtzeitig überweisen kann.
Alles Gründe, warum Montgomery handeln will - auch wenn er die die Ausbildung zum Arzt in Deutschland für exzellent hält. "Das theoretische Wissen der jungen Leute ist beeindruckend, aber die praktische Kompetenz fehlt oft", sagt er. "Wir brauchen Menschen und keine Abiturzeugnisse."
Lena Weiß hatte auf ihrem Computer einen Countdown eingerichtet, der die Tage herunterzählt, bis der Zulassungsbescheid im Briefkasten ist. "Jetzt habe ich einen Studienausweis in meiner Hand", sagt sie. "Ich kann's kaum glauben." Am 14. Oktober beginnt das Studium. Sie ist die Erste aus ihrer Familie, die eine Uni besucht.
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