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Analyse: Wie Main-Spessarts Industrie klimaneutral werden will

Fast die Hälfte aller Main-Spessarter Treibhausgase verursacht die Industrie. Wie wollen die Firmen diese Zahl auf null drücken – und können sie es überhaupt? Eine Analyse.

Bevor hier gleich ein Haufen Leute aus Main-Spessarts Industrie über Klimaneutralität sprechen werden, über Fortschritte, Herausforderungen, Versäumnisse ihrer Unternehmen, geht's erst mal in den Westen des Landkreises. Genauer: nach Hasloch. Noch genauer: in's dortige Hammermuseum.


Hier hat der Kreuzwertheimer Maschinenbauer Kurtz Ersa seine Wurzeln. 245 Jahre sind sie alt, die Schmiede und der Konzern. Sie waren eines der ersten Stückchen Industrie in Main-Spessart, angetrieben von einem umgeleiteten Bach. Ein Viertel Jahrtausend Produktion: nahezu klimaneutral. Wie sich die Zeiten geändert haben.


Main-Spessart ist ein umweltschädlicher Landkreis

Klimaneutral sein: dorthin will Kurz Ersa jedoch zurück - spätestens 2029, zum 250. Geburtstag. In dem selben Viertel Jahrtausend hat sich Kurz Ersa zum Weltkonzern entwickelt, hat Sitze in Nordamerika, Asien, Frankreich eröffnet, beschäftigt heute 1200 Mitarbeiter. Der Jahresumsatz im Jahr 2020: 230 Millionen Euro. Das Vorhaben "Klimaneutralität" ist riesig, nicht nur für Kurtz Ersa, sondern für ganz Main-Spessart. Der Landkreis ist ein attraktiver Standort für Industrie, mit internationalen Lieferketten und Verflechtungen, von denen alle ganz lange profitierten.


Das hatte aber, wie alles im Leben und der Wirtschaft, einen Preis. Etwa 13,5 Tonnen CO2-äquivalente Treibhausgase stößt der Landkreis aus, heruntergerechnet auf jeden Einwohner. Das geht aus einer Erhebung des Landratsamtes aus dem Jahr 2017 und für das Jahr 2015 hervor. Es ist die bisher aktuellste, eine weitere ist für Ende des Jahres angekündigt. 13,5 Tonnen, das war damals schon viel im Vergleich zum deutschlandweite Schnitt von etwa 9,5 Tonnen pro Kopf, sogar sehr viel im Vergleich zum weltweiten Schnitt von 4,8 Tonnen pro Kopf.


Klimaneutralität kein Selbstzweck mehr

Wenn der Landkreis klimaneutral werden will, dann spielt die Industrie eine gewaltige Rolle. Fast die Hälfte der Treibhausgas-Emissionen gehen auf die Industrie zurück. 6,6 Tonnen CO2 pro Kopf, um genau zu sein. 3,8 entfielen auf Verkehr, zwei auf private Haushalte, 0,9 auf "Gewerbe, Handel und Dienstleistungen", 0,2 auf öffentliche Verwaltungen.

Diese große Rolle haben viele Industrieunternehmen inzwischen erkannt. Bosch Rexroth in Lohr zum Beispiel sagt von sich, bereits klimaneutral zu sein. "Als erstes globales Industrieunternehmen", erklärt das Unternehmen auf Anfrage. Um die zehn Jahre hat es gedauert, am Ende angekommen sei man außerdem noch lange nicht, mit dem Umbau. Man werde deshalb 100 Millionen Euro in eine effizientere Gießerei, effizientere Transportwege, effizientere Maschinen investieren. Auf dem Firmengelände in Lohr steht sogar ein Museum, in dem die Angestellten was über Klimaschutz lernen sollen.


Warum macht Bosch Rexroth das? Verantwortung, ja klar. Inzwischen ist das Streben nach Klimaneutralität jedoch kein reiner Selbstzweck mehr. Mit vielen Maßnahmen ist ein Haufen Geld zu sparen, der Staat schüttet Subventionen in die Energiewende wie aus Wasserkübeln. So hört man es aus vielen Unternehmen, aus dem Landratsamt und von der IHK. Dazu kommt bald der CO2-Preis. So schnell werden noch vor wenigen Jahren unwirtschaftliche Dinge wirtschaftlich und Klimaschutz so zur Investition in die Zukunft.

Marcus Loistl, Leiter der Kommunikation bei Kurtz Ersa, geht sogar noch einen Schritt weiter: "Wir sind somit gleich auf neuen, wachsenden Märkten präsent. Wir und unsere Produkte werden zum Maßstab." Zu den Maschinen liefert das Unternehmen seit Kurzem auch deren komplette Ökobilanz: Rohstoffe, Montage, Lebensdauer, Recycling und und und. Einerseits weil man ohne das Erfassen nicht wisse, wo man einsparen könne. "Andererseits ist es unser unique selling point, unser Alleinstellungsmerkmal", sagt Anna Hieble, die für den Konzern das Klimaneutralwerden betreut.


Klimaneutralität wichtig für Industriestandort Main-Spessart

Weil große Konzerne schon jetzt die Klimaneutralität ihrer Produkte auf die Lieferkette herunterbrechen, wird dies auch ein Thema für kleinere Industrieunternehmen und Zulieferern, von denen es einige in Main-Spessart gibt.


Viele Unternehmen haben das schon erkannt. Doch das war nicht immer so. Michael Kohlbrecher, Klimaschutzbeauftragter des Landkreis Main-Spessart, erinnert sich noch an Veranstaltungen vor fünf Jahren mit 30 Interessierten und null Rückmeldung. Das habe sich jedoch gewandelt: "Viele Industrieunternehmen sind da inzwischen schon sehr weit."

Ähnliches berichtet Jacqueline Escher. Sie begann 2012 bei der Industrie- und Handelskammer Würzburg-Schweinfurt als Referentin für Umwelt und Technologie zu arbeiten. Seit diesem Jahr, mit einem Corona-Jahr Verzögerung, sei Klima das Hauptthema für Unternehmen, sagt sie.


Wann ist man klimaneutral?

Und damit zu den Hauptfragen: Was ist Klimaneutralität und wie versuchen die Main-Spessarter Unternehmen, sie zu erreichen? Zur Antwort muss man noch einen Fachbegriff wissen: die sogenannten "Scopes", zu deutsch "Umfänge". Man müsse sich das wie Abgaswolken vorstellen, sagt Umweltreferentin Escher. "Scope 1" sei die CO2-Wolke über der Firma, erzeugt vom Fuhrpark oder einer Heizung zum Beispiel. "Scope 2" sei die Wolke über dem Kraftwerk, also Fernwärme und Strom.


Scope 3 hingegen seien die Wolken von und zum Unternehmen, angefangen beim Arbeitsweg der Mitarbeiter, über den Transportweg der Rohstoffe bis zur Gewinnung der Rohstoffe selbst. Die Recyclingquote inbegriffen. "Scope 3 ist ungleich schwieriger zu erfassen - und teilweise haben die Unternehmen keinen Einfluss auf die Emissionen in der Vorkette", sagt Escher.


Genauer versteht man ihren Satz, wenn man zum Beispiel mit Verena Müller-Drilling spricht. Sie ist Geschäftsführerin bei Müller Feinblechbautechnik in Frammersbach, das mit etwas über hundert Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eher klein als groß für ein Industrieunternehmen ist. Sie sagt: "Ich bin ein Kind der 80er-Jahre. Da gab es das schon mal eine Umweltschutzwelle."


Viele Umweltschutzmaßnahmen seien für sie selbstverständlich. Das beginne bei recyceltem Papier oder LED-Beleuchtung, gehe über benzinsparende Kleintransporter, über Solarpanele auf dem Dach und ende bei der Anschaffung der stromsparendsten Maschinen auf dem Markt. "Das macht ja auch wirtschaftlich Sinn", sagt Müller-Drilling. "Wenn Strom und Wärme komplett klimaneutral wären, wären wir schon ziemlich weit unten mit unseren Emissionen."

Das gilt jedoch nur für Scope 1 und 2. Bei Scope 3 stößt Müller-Drilling, genauso wie alle anderen Industrieunternehmen, an ihre Grenzen. Müller-Drilling drückt es im konkreten Beispiel so aus: "Die Bleche, die wir zur Verarbeitung brauchen, die gibt es halt nicht um's Eck." Egal wie sehr man an den Transportwegen schraubt, am Ende müssen die Rohstoffe zur Firma, das Produkt von dort aus zum Kunden - und klimaneutral transportieren, dafür gibt es heute noch nicht die Strukturen. Stichwort: Bahnausbau. "Wäre die Welt schon grün, wäre das mit der Klimaneutralität einfach", bringt Umweltreferentin Escher das Problem auf den Punkt.


Die Verkehrswende kommt - aber mit Schwierigkeiten

Die ersten Industrieunternehmen haben auch begonnen, auf Elektromobilität zu setzen - zumindest was die Dienstwagen angeht. Fertig Motors in Marktheidenfeld zum Beispiel, die spezielle Elektromotoren herstellen. "Es wird niemanden wundern, aber ich bin Elektro-Fan. Die sind einfach am effizientesten", sagt Geschäftsführer Dietmar Hamberger.


Das Anfangen mit solchen Dingen erschweren aber die sogenannten "Vorschriften", eine von manchen Unternehmenden etwas zu strapazierte Ausrede fürs Nichtstun. In diesem Fall ist sie jedoch berechtigt. Lässt Hamberger zum Beispiel Kunden an der Firmen-E-Ladesäule tanken, wird Fertig Motors dadurch Stromanbieter. Und damit werde es kompliziert, sagt auch Umweltreferentin Escher. Als wäre das ganze Photovoltaik-Thema nicht schon "bürokratisch schwierig" genug, wie man aus eigentlich allen Firmen hört.

Vor allem für kleinere Betriebe, wie Müller-Drilling anmerkt. "Große Unternehmen können es sich leisten, Leute für diese Dinge einzustellen. Bei Kleineren schlägt das im Verhältnis gleich ganz anders auf die Bilanz."


Wo soll man anfangen?

Wo also anfangen? Eschers wichtigster Tipp ist: so viele Daten zu Emissionen sammeln, wie nur geht - und zwar über die gesamte Wertschöpfungskette. Und da haben selbst Unternehmen wie Kurtz Ersa noch ihre Probleme. Anna Hieble: "Jeder stellt sich gerade die gleiche Frage: Wie komme ich an die Daten, wenn die von vielen noch gar nicht erhoben werden." Bisher nähere man sich über den rechnerischen Weg ganz gut an, auf Dauer wolle und müsse man es ganz genau wissen. Denn von Daten hängt alles ab. Wo gibt es CO2-Einsparpotenzial? Wie viel müsse man zahlen, sobald der CO2-Preis kommt?


Eine der wichtigsten Fragen zur Klimaneutralität bleibt aber immer noch die: Wie viel kostet es, das CO2 zu kompensieren? Damit gemeint ist der Zertifikate-Kauf von Organisationen, die Klimaschutzprojekte betreiben - das berühmte Bäume pflanzen, aber auch der Ausbau von Solarstrom oder von Wasserkraft fällt darunter. Wer sich heute als klimaneutral bezeichnen will, der muss CO2 zwangsläufig kompensieren. Bei Bosch Rexroth ist das so, bei Kurtz Ersa auch, eigentlich überall. "Es hat schon etwas von Schönrechnerei mit diesen Zertifikaten", sagt zum Beispiel Dietmar Hamberger von Fertig Motors. Trotzdem kompensiert auch Fertig Motors.


Zumindest etwas zu tun, sei besser als nichts.


Tipps zur Klimaneutralität

Förderungen beantragen: Es gibt mittlerweile fast nichts mehr im Bereich Energieeffizienz, was sich nicht fördern lässt. So fasst es der Klimaschutzbeauftragte Michael Kohlbrecher zusammen. Datenbanken dafür gibt es mehrere.
Bürokratie: Wer Solarstrom will, aber keine Bürokratie, kann das Dach an externe Betreiber vermieten. Auch das empfiehlt Kohlbrecher.
Früh anfangen: Selbst nach ausgefüllten Förderungsanträgen bleiben ganz weltliche Themen wie der Handwerkermangel.
Mitarbeiter mitnehmen: Niemand ist näher dran. Außerdem hat mal als Unternehmen ein gemeinsames Ziel. "Und du willst ja auch in einem Unternehmen arbeiten, das sich kümmert. Das ist Teil eines attraktiven Arbeitsplatzes", so Marcus Loistl von Kurtz Ersa.
Weiterbildung: Die IHK bietet seit Jahren ein Energiescout-Projekt an, in dem Azubis Energieeffizienz-Potenziale in ihrem Unternehmen erkennen lernen. Jacqueline Escher: "Von den Ideen dieser jungen Leute bin ich immer sehr begeistert." Original