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Online-Unterricht: "Du sprichst aus Erfahrung, ne?"

Lange hielten Ministerpräsidenten und Bundesregierung am Präsenzunterricht fest. Wie geht es den Schülern und Lehrern nun, da alles wieder online stattfindet? Ein Besuch.

Für eine Reportage – eine Stilform, die eigentlich per Definition vom Beschreiben lebt – ist es nicht besonders günstig, wenn keiner der Menschen zu sehen ist, über die man schreiben möchte. Es war ja nicht so, als hätte Ramona Pfenning tags zuvor genau darauf hingewiesen. Und so blickt man um halb zehn Uhr morgens nur in ihr Gesicht, in das leicht verschlafene eigene und das von Angela Merkel, die sich umständlich eine Maske aufzieht. Es ist Deerays' Profilbild. Die restlichen Schüler in der Online-Videokonferenz bleiben Namen, Kacheln weiß auf schwarz.


Ramona Pfenning unterrichtet an der Gemeinschaftsschule Wertheim. Sie liebe ihren Job, sagt sie und spricht damit nur aus, was eigentlich nicht zu überhören ist. Es schwingt in ihrer Stimme, wenn sie über ihre "Jungs" und "Mädchen" spricht. "Ich vermisse am meisten, die Gesichter der Kinder zu sehen", sagt sie.


Lange hielten die Ministerpräsidenten und die Bundesregierung am "Präsenzunterricht" fest. Vielleicht auch deswegen, weil Studien über dem ersten Lockdown zeigten, dass viele Schüler unter den Folgen von Online-Unterricht litten. Die Schere zwischen guten und schlechten Schülern ging auseinander, doch auch die sozialen Aspekte von Schulen gerieten in den Hintergrund. Das beobachtet auch Pfenning.


Jetzt, da die zweite Corona-Welle die Krankenhäuser an die Belastungsgrenze treibt, geht es für die Schüler und Lehrer zurück zum Online-Unterricht. Hat sich in den vergangenen sechs Monaten etwas geändert? Wie sehen die Schüler dem zweiten Lockdown entgegen?


Die Schere zwischen guten und schlechten Schülern geht auseinander

Manche Dinge ändern sich wohl nie. Pfenning geht zu Beginn der Stunde die Anwesenheitsliste durch. "Lukas, du darfst den Nico anrufen und wecken." Julia und Joleen sind auch noch nicht da. Im Online-Unterricht läuft alles etwas lockerer, obwohl Pfenning Wiederholungszuspätkommer gern auch mal selbst anruft. Das kann sie aber gerade schlecht, weil ihre Tochter ins Arbeitszimmer gestürmt kommt.


Heute geht es um die Börse. Eigentlich steht im Lehrplan nur, überspitzt ausgedrückt, dass es die Börse gibt. Doch die Neuntklässler interessieren sich dafür. Deeray, der mit dem Merkel-Profilbild, hatte voriges Mal eine Frage zu einer zusätzlichen Steuer auf Aktientransaktionen. Vor der Stunde, so Pfenning, habe sie noch schnell in der Bank angerufen. Die Mitarbeiterin dort habe nichts darüber gewusst. Der Reporter, obwohl er schon in Wirtschaftsredaktionen gearbeitet hat, auch nicht.


Die nächsten gut 30 Minuten drehen sich um alles, was mit Aktien zu tun hat. Viel mehr geht es Pfenning aber um den Subtext: die Vorurteile der Schüler, vor allem die, die sie gegenüber sich selbst haben. "Bei vielen meiner Kinder ist es so, dass sie die Erziehungsberechtigten ihrer Eltern sind. Sie dolmetschen beim Arzt, im Geschäft, im Rathaus."


Manchmal hat Pfenning Angst, den Eltern sei Schule nicht wichtig. Letztens habe sie mit einer Mutter aus der Klasse gesprochen. Die meinte, ihr Sohn werde eh in einer Fabrik arbeiten. Pfenning erzählt vom Erstaunen der Frau, nachdem sie ihr vom Potenzial und den Möglichkeiten des Sohnes erzählte. "Es ist ja auch nachvollziehbar. Wenn Eltern selbst schlechte Erfahrungen in der Schule gemacht haben, sind sie bei ihren Kindern weniger dahinter." Sie weist auch noch auf eines hin: Während andere dies nicht tun würden, macht diese Klasse ihre Kameras am Laptop aus. Als würden sie unsichtbar sein wollen.

Schüler brauchen andere Schüler

Wie trifft das Homeschooling also die Kinder? Wissenschaftlicher Konsens ist das, was der Potsdamer Professor für Erziehungs- und Sozialisationstheorie in seinem Beitrag für die Bundeszentrale für politische Bildung schreibt: Kinder bräuchten für ihre Entwicklung andere Kinder, Bewegungsfreiheit und Erfahrungsräume. Mit dem ersten Lockdown kamen zwei ihrer Schüler sehr schlecht klar, erzählt Pfenning. Es könnte unter anderem deswegen gewesen sein. Im zweiten Lockdown laufe dies jedoch besser. Die Antworten der Schüler am Ende der Stunde, als noch kurz Zeit für die Fragen des Reporters ist, deuten in eine ähnliche Richtung.


Bis dahin sollen die Jugendlichen erst mal Bankberater sein. Die Aufgabe: Welchem der drei folgenden Personen würden sie Aktien empfehlen?

a) Dem Auszubildenden, der Geld geerbt hat und sich super mit Elektromobilität auskennen? b) Dem Vater, der gerade ein Kind bekommen hat und seine Freizeit in Instagram steckt? c) Dem Rentner, der viel Zeit, aber wenig Rente hat und Monat für Monat etwas davon beiseite legt?

Behroz und Deeray plädieren für den Rentner, er habe Zeit und informiere sich: "Man darf nicht blind darauf los kaufen." Nico würde es dem Auszubildenden empfehlen. Wir jungen, sagt er, würden später eh kaum Rente bekommen. Mit Aktien könne er die aufpolieren.

Pfenning wirft eine Grafik auf ihren Bildschirm, die mit "Anzahl von Aktienbesitzern in Tausend" überschrieben ist. 

"Und obwohl wir jetzt allen außer dem Erwachsenen Aktien empfohlen haben, wer besitzt die meisten Aktien?", fragt sie. 

"Angestellte", sagen die schwarzen Kacheln. 

"Wer hat mit am wenigsten?", fragt Pfenning. 

"Auszubildende!" "Warum könnte das so sein?" 

"Die wenigsten Jungen erben, und können sich Aktien kaufen", schlägt Emely vor. 

"Auszubildende verballern das Geld einfach", sagt Nico. "Ich würde trotzdem Aktien empfehlen, obwohl Auszubildende nicht so viel Zeit wie Rentner haben."


Auch Lehrer vermissen die Schule

Am meisten vermisst Ramona Pfenning den direkten Kontakt zu den Schülern, den Kindern in die Augen sehen zu können, wenn sie eine Frage haben. "Man kann keine Witze machen, Ironie funktioniert nicht", sagt sie. Generell: jegliche Arten von Sozialformen fehlen ihr "fürchterlich": Partnerarbeit, Plakate gemeinsam gestalten, Projekte besuchen und selbst veranstalten (zum Thema eine eigene Schülerfirma gründen oder für das Tierheim sammeln). Vor Weihnachten bastelt sie immer einen Adventskalender für die Kinder. Daraus können sie Gutscheine ziehen, zum Beispiel einen, bei dem Pfenning die Eltern anruft und nur positive Dinge über den Schüler erzählt. "Das habe ich immer zelebriert. Das fehlt mir auch."


Aber, und das sagen auch die Kinder: Gegenüber dem ersten Lockdown sei der Online-Unterricht viel weniger chaotisch. Die Abläufe sind klar, der Tag habe eine Struktur. Sowohl Lehrerin als auch ihre Schüler genießen es, mal länger zu schlafen. "Weil wir faul sind", sagen die Schüler. Was keiner von ihnen zu mögen scheint, ist das plumpe Hochladen von Arbeitsblättern. "Da ist man nicht so motiviert, weil die meisten Lehrer es eh nicht kontrollieren", sagt eine Kachel. Eine andere fügt hinzu: "Meistens sind die Lösungen auch schon dabei. Die schreiben die meisten einfach ab." "Du sprichst aus Erfahrung, ne?", sagt eine dritte. Gelächter.


Viele vermissen auch einfach die Schule. Man könne im Unterricht einfacher und besser nachfragen, wenn man was nicht verstanden habe, sagt einer. "Man sieht auch seine Freunde und, uhm, seine Freundinnen", sagt ein anderer. Wieder Lachen.

Wie war die Stunde für Sie, fragt der Reporter die Lehrerin Pfenning nach der Stunde. "Es lief ganz gut." Vielleicht ist das auch gerade das maximal Mögliche.

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