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Experten fordern radikalen Umbruch: Wie man die Sozialversicherung gerechter machen kann

Als wenig zukunftsfähig und ungerecht beschreiben Experten aus Wissenschaft, Gewerkschaft und Politik das deutsche Sozialversicherungssystem. Das zeigt eine Studie des Deutschen Instituts für Altersvorsorge (DIA). Es gibt jedoch Hoffnung: Gerade die größte Gefahr für Arbeitsplätze könnte Teil der Lösung sein.


Die Arbeitswelt wandelt sich permanent - und so sollten es auch die sozialen Sicherungssysteme. Als Otto von Bismarck vor etwa 130 Jahren die erste Sozialversicherung schuf, war sein Leitspruch: „Geben Sie dem Arbeiter das Recht auf Arbeit, solange er gesund ist, sichern Sie ihm Pflege, wenn er krank ist, sichern Sie ihm Versorgung, wenn er alt ist." Heute ist die überwiegende Mehrheit der Experten der Meinung, dass das soziale Sicherungssystem dies bald nicht mehr leisten kann. Es komme schlicht dem Wandel der Arbeitswelt nicht mehr hinterher, schreiben die Studienautoren.


Sozialversicherungspflichtige werden zwangsläufig weniger werden

Der eine Grund ist der demographische Wandel. Im Interview mit FOCUS Online zeichnet der ehemalige Präsident des ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, ein dunkles Bild: „Die Babyboomer, die Mitte der 60er Jahre geboren sind, sind jetzt Mitte 50 und wollen in zehn Jahren eine Rente von Kindern, die sie nicht haben. Das wird in jedem Fall enorm unangenehm für alle Beteiligten."


Der andere Grund setzt sich aus den Folgen der Digitalisierung zusammen. Die meisten Experten der DIA-Studie kritisieren, dass sich die Sozialversicherung noch immer an unbefristeten Arbeitsverhältnissen in einer Firma orientiert. Dies ist für viele Menschen schon jetzt nicht mehr möglich. Lücken im Lebenslauf und Arbeitgeberwechsel sind in ganzen Branchen inzwischen fast unvermeidbar.


Sozialversicherung soll vom Lohn entkoppelt werden

Viel problematischer ist für die Experten aber, dass die Sozialversicherungsbeiträge an den Lohn der Arbeitnehmer gekoppelt sind. In diesem Zusammenhang bedeutet das: Je mehr Arbeitsplätze durch Maschinen ersetzt werden, desto weniger können Arbeiter in die sozialen Sicherungssysteme einzahlen. Die Finanzierung von Renten wird also noch viel schwieriger als zuvor.


Die Experten bringen daher eine jahrzehntealte Idee wieder auf den Tisch: Der Arbeitgeber soll die Sozialversicherungsbeiträge nicht an den Lohn seiner Mitarbeiter, sondern an die wirtschaftliche Leistung seines Unternehmens koppeln.


Wertschöpfung soll besteuert werden

Hintergrund davon ist, dass automatische Arbeit durch den Gesetzgeber indirekt subventioniert wird, da für Maschinen keine Sozialversicherungsbeiträge anfallen. Es lohnt sich also für Unternehmer mehr, Maschinen zu kaufen als Menschen einzustellen - auch wenn diese zu gleichen Teilen zum Unternehmenserfolg beitragen.


Umgangssprachlich wird die sogenannte „Wertschöpfungsabgabe" deshalb auch „Maschinensteuer" genannt, da eben dieser „Nachteil" der Arbeitnehmer wegfallen würde. So wird nicht nur menschliche, sondern auch maschinelle Leistung in die Sozialversicherung einbezogen. Salopp formuliert: Die Maschinen arbeiten nicht nur für den Profit des Unternehmers, sondern auch für die Rente der Arbeitnehmer.


Einnahmen aus der Digitalisierung könnten allen Menschen zugute kommen

Für die befragten Experten hat diese Form der Finanzierung der Sozialversicherung viele positive Effekte. Arbeitnehmer würden so viel wie bisher verdienen, würden den Arbeitgeber sogar weniger Beiträge kosten und deshalb könnte dieser leichter neue Mitarbeiter einstellen. Zudem könnte die sinkende Zahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmer ausgeglichen werden, indem man die viele Maschinen ebenfalls besteuert.


Außerdem könnte die Wertschöpfungsabgabe ein Werkzeug dafür sein, die Gewinne aus der Digitalisierung, die sogenannte „Digitalisierungsdividende", gerechter auf alle Menschen zu verteilen. Es würde Mehreinnahmen für den Sozialstaat bedeuten, die wiederum für digitale Weiterbildung eingesetzt werden könnten.


Österreich hat sich bereits konkret mit einer Maschinensteuer beschäftigt

Prominenter Fürsprecher für die Maschinensteuer ist ausgerechnet Microsoft-Gründer Bill Gates, der bereits Anfang 2017 bereits dafür geworben hatte. Auch der ehemalige österreichische Kanzler Christian Kern hatte zur selben Zeit damit geliebäugelt.


Wirtschaftsnahe Ökonomen halten diesen Vorschlag jedoch für fatal. Clemens Fuest, der aktuelle Präsident des ifo-instituts, nannte eine Wertschöpfungsabgabe „die schlechteste steuerpolitische Entscheidung, die man fällen könnte". Er befürchtet, dass Unternehmen ihre Standorte ins Ausland verlagern und weniger in Maschinen investieren würden.


Experten halten Maschinensteuer für effektiv

Auch wenn die „Maschinensteuer" nicht umgesetzt werden sollte, geht es den Autoren der Studie vielmehr darum, dass sich Politik und Gesellschaft darüber bewusst werden, dass sie handeln müssen. Über die Hälfte der von der DIA befragten Experten halten die Wertschöpfungsabgabe für effektiv oder außerordentlich effektiv. Es glauben jedoch nur die wenigsten, dass sie wirklich eingeführt werden wird.


Die Experten der Studie befürchten viel eher blinden Aktionismus. Dieser sei besonders kontraproduktiv. „Die Politik wird sich auf Symbole konzentrieren und das machen, was einfach und schnell geht - das ist oft genau nicht das, was erforderlich und erfolgreich wäre."

Sinn: Blinder Aktionismus ist fatal

Das sieht der ehemalige ifo-Präsident Hans-Werner Sinn ähnlich. „Wenn man das Rentenniveau festschreibt, wie das jetzt die SPD will, dann müssen die Jungen umso mehr zahlen. Und wenn man die Jungen entlasten will, dann reichen die Renten schon jetzt nicht mehr." So sei kein Politiker in der Lage, diesen fundamentalen Konflikt zu überwinden, glaubt Sinn. Über eins sind sich alle Experten einig: Das deutsche Sozialversicherungssystem braucht ein Update.

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