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Wenn Geld bezahlt wird: Ab wann wird ein Ehrenamt zur Arbeit?

Das Ehrenamt ist eine wichtige Stütze der Gesellschaft. In den vergangenen Jahren werden Freiwillige, vor allem in der Pflege, oft als billige Arbeitskraft ohne Renten- und Versicherungsanspruch missbraucht - subventioniert vom Staat. Dies bekommen vor allem Frauen zu spüren.


FOCUS: Verpflichtende Schichtpläne und Geld für geleistete Arbeit sind längst auch im Ehrenamt an der Tagesordnung. Was unterscheidet solche Ehrenämter dann noch von „normaler" Arbeit?

Paul-Stefan Roß: Ein Ehrenamt muss die Möglichkeit geben, jederzeit aufhören zu können. Das Problem ist jedoch, dass es in der Unterscheidung viele Graubereiche gibt. Denn: Man geht auch im freiwilligen Engagement Verbindlichkeiten ein, zum Beispiel als Vorstand eines Fußballvereins, in der Sterbebegleitung älterer Menschen. Trotzdem ist dies eine andere Art von Verpflichtung, als wenn man einen Arbeitsvertrag unterzeichnet.

Auch die Zahlung eines Stundensatzes in Verbindung mit Dienstplänen ist ganz klar ein Merkmal für Erwerbstätigkeit. Das ist überhaupt der wichtigste Unterschied: Eine Erwerbsarbeit übernehme ich, weil ich Geld verdienen möchte für die Sicherung meiner Existenz; ein Ehrenamt übernehme ich, weil ich mich für Dinge, Menschen oder Werte, die mir wichtig sind, einsetzen möchte.


FOCUS: Stellen Sie sich vor, Sie bekommen eine geringe Rente und arbeiten deshalb nebenbei ehrenamtlich für einen Zuverdienst, ohne den Sie Ihren Lebensstandard nicht halten könnten...

Wenn die angesprochene Tätigkeit zur Existenzsicherung dient, würde ich sie nie als Ehrenamt oder freiwilliges Engagement zählen.

Es ist auch total in Ordnung, wenn eine kleine Organisation, die auf sozialem Engagement basiert, sagt, dass sie den Helfern einen Beitrag zahlen, wenn diese sich sonst nicht engagieren könnten. Wenn aber große Organisationen, wie zum Beispiel die Caritas oder die Diakonie, Stellen im Rahmen „geringfügiger Beschäftigung" besetzen möchte, dies jedoch als „Ehrenamt" deklariert, weil es besser klingt, geht das nicht in Ordnung.


FOCUS: Was ist denn der Vorteil für sozialwirtschaftliche Unternehmen, Ehrenamtliche einzubeziehen?

Hier muss man die Spreu vom Weizen trennen. Für die einen ist der zentrale Grund: Billige Arbeitskraft. Man bezahlt Menschen mit einem bestimmten Stundensatz für bestimmte Tätigkeiten zum Beispiel auf 450-Euro-Basis und vermeidet so reguläre sozialversicherungspflichtige Stelle. Das ganze wird „Ehrenamt" genannt, weil das vielleicht prestigeträchtiger klingt. Für mich ein klarer Etikettenschwindel.


Den anderen geht es darum, dass es für die Menschen, denen die Organisation helfen will, besser ist, wenn Profis und ehrenamtliche da sind. Das ist für mich das - einzige - Argument das zählt. Ein persönliches Beispiel: Ich habe in einer Einrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung gefragt, was für sie der Unterschied zwischen beruflich tätigen Fachkräften und freiwillig Engagierten ist.


Die Antwort in einfachen, aber ganz klaren Worten: „Zu den Fachkräften gehe ich, wenn ich wissen muss, wie etwas funktioniert. Die kennen sich aus. Die anderen sind nur wegen mir da, weil sie mich mögen. Sie kommen extra für mich." Klar ist aber auch: Für eine gute Ehrenamtsarbeit muss ich als Organisation was tun, zum Beispiel für die Begleitung und Fortbildung der Engagierten sorgen. Das wiederum kostet was. Aber es zahlt sich aus, weil mein Angebot an Qualität gewinnt. Das spricht sich herum.


FOCUS: Ist die Pflege besonders von diesem Etikettenschwindel betroffen?

Man kann das nie an einzelnen Organisationen festmachen, jedoch begegnen uns solche Konstellationen häufig in der Pflege. Wir sind mitten in einem Pflegenotstand - auf beiden Seiten: Die Zahl der Pflegebedürftigen steigt und gleichzeitig stagniert die Zahl der Pflegekräfte.


Diese Lücke, die sich da auftut, wird auch mit Freiwilligen aufzufangen versucht - oft mit dem Anliegen, Menschen möglichst lang in ihren eigenen vier Wänden zu halten. Zum Beispiel unterstützen Menschen im Rahmen der Nachbarschaftshilfe die Altenpflege. Und hier wird zum Teil mit Geldzahlungen „nachgeholfen"...


Was ist dagegen einzuwenden, wenn Ehrenamtliche dafür auch noch bezahlt werden?

Wie gesagt: Meine große Kritik ist der Etikettenschwindel. Wenn man anstatt von sozialversicherungspflichtigen Jobs ein Netz aus Nebentätigkeiten spannt und das dann auch noch unter dem sozial angesehenen Wort „Ehrenamt" verkauft, ist das eine Mogelpackung.


Eine solche Strategie kann unter Umständen nichts anderes sein als eine Sparmaßnahme. Besonders schwierig wird es, wenn der Staat Anreize in diese Richtung gibt: Also wie im Bereich der Betreuung pflegebedürftiger Menschen zu Hause Geld in dieses System hineinpumpt, das systematische für „Ehrenamt" mit stundenweiser Bezahlung genutzt werden kann. Das schadet beidem: ordentlich bezahlter Arbeit und der eigentlichen Motivation von Ehrenamt.


Etwas ganz anderes ist, dass ehrenamtlichen Auslagen, die ihnen durch ihr Engagement entstehen, erstattet bekommen. Das sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Es darf nicht sein, dass ein Freiwilliger noch Geld mitbringen muss, um sich ehrenamtlich engagieren zu können.


FOCUS: 70 Prozent der Ehrenamtlichen im sozialen Bereich sind Frauen. Oft bekommen sie dafür Geld, haben jedoch keine Rentenansprüche. Ist dies ein weiteres Puzzleteil für die häufigere Altersarmut? Wird den Frauen ihr soziales Engagement zum Verhängnis?

Ja. Das kann passieren. Wenn Frauen sich sozial engagieren, anstatt im klassischen Sinne zu arbeiten, können sie sich ihr eigenes Armutsgrab im Alter schaufeln. Dies darf nicht systematisch ausgenutzt werden.


FOCUS: Ist der Anstieg der als Ehrenamt getarnten Arbeit allein durch diese staatlichen Anreize zu erklären?

Zum Teil. Auf der Seite der Organisationen gibt es eine ganz klare Marktorientierung. Die Dienstleitung soll möglichst gut, aber auch billig sein. Bei öffentlichen Ausschreibungen bekommt meist der billigste Anbieter den Zuschlag der öffentlichen Hand. Da ist die Versuchung groß, auf Nebenjobs zu setzen.


Auf Seite der Ehrenamtlichen hat es auch damit zu tun, dass es einfach viele Leute in prekären Situationen gibt, die auf einen Zuverdienst angewiesen sind. Dass zum Beispiel Altersarmut zunehmend zum Problem wird, ist statistisch belegt.

Ein weiterer Punkt ist auch unsere allgemeine kulturelle Prägung in einer Marktgesellschaft. Frei nach dem Spruch „Was nichts kostet, ist nichts wert" wird der Wert von Engagement auch an Geld gemessen.


FOCUS: Was kann man gegen den Etikettenschwindel tun?

Die Organisationen müssen sich darüber klar werden, warum sie mit freiwillig Engagierten arbeiten möchten. Und Sie müssen diese dann gut begleiten. Gute Gründe wurden oben genannt. Wenn es ihnen aber darum geht, dass Menschen schlicht Dienstleistungen erbringen und sie diese mit Geld und Verträgen dafür verpflichten, sollen sie dafür sozialversicherungspflichtige Jobs schaffen.


Ich bleibe jetzt beim Beispiel der Pflege: Der Staat muss entscheiden, inwieweit er den Menschen sagen will, dass eine gute Pflege schlicht mehr Geld kosten wird. Durch kleinere kosmetische Eingriffe wird sich dieses Problem nicht lösen lassen. Und erst recht nicht dadurch, dass man vermeintliche „Ehrenamtliche" stundenweise bezahlt. Mehr Gehalt für die Pflegekräfte, bessere Arbeitsbedingungen - das kostet.


Um diese grundsätzlichen Weichenstellungen geht es, nicht darum, ob es „unmoralisch" ist, dass jemand ein paar Euro für eine soziale Tätigkeit bekommt.


FOCUS: Was wären denn die Konsequenzen, wenn Bezahlung für Ehrenamt nicht gegeben wäre?

Das Engagement in Deutschland würde vielleicht leicht zurückgehen, jedoch keineswegs zusammenbrechen. In Untersuchungen haben wir festgestellt, dass viele Menschen eine ganz klare Ehrenamtsmotivation haben. Wenn sie kein Geld mehr bekommen würden, würden einige einfach weitermachen. Andere würden ihr Engagement zurückschrauben und sich einen anderen Job suchen, jedoch ihr Ehrenamt nicht beenden.


Schließlich gibt es Menschen, die auf einen Verdienst schlicht angewiesen sind - die würden gehen. Bei allem muss man im Hinterkopf behalten: Obwohl über Geldzahlungen hitzig diskutiert wird, bekommen nur knapp zehn Prozent der Freiwilligen Geld für ein Ehrenamt.

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