Wie viele Male er mit seiner Mappe unter dem Arm an der Theke des Tätowierstudios Checker Demon Tattoos stand, weiß er nicht mehr. Und auch nicht, wie oft ihn Luke Atkinson wieder weggeschickt hat. Doch Leon Weidle kam immer wieder, Monat um Monat, drei ganze Jahre lang. Immer hatte er neue Skizzen und Zeichnungen dabei. Weidle wollte schon als 15-Jähriger Tätowierer werden, und er wusste genau, wo er das Handwerk lernen wollte.
Im Checker Demon Tattoos in Stuttgart sind die Wände türkisfarben, der Boden hat ein schwarz-weißes Schachbrettmuster. Bilder und Masken asiatischer Götter und Dämonen zieren die Wände. In der aufgeheizten Luft hängt der Geruch von Desinfektionsmitteln. Hinter dem Empfangstresen mischt sich das monotone Summen der Tätowiermaschinen mit dem schnulzigen Rock 'n' Roll eines Elvis Presley.
Der Studiochef Luke Atkinson - 50 Jahre alt, Engländer - kommt an diesem Morgen wie so oft etwas zu spät. Gut gelaunt begrüßt er seine Mitarbeiter. Im Laden wartet bereits sein Zehn-Uhr-Termin. Fabienne, eine junge Schweizerin mit der Erscheinung einer modernen Audrey Hepburn, trägt roten Lippenstift und ein schwarzes Kleid mit weißem Kragen. Das brünette Haar hat sie zu einem Dutt gesteckt. Am Morgen war sie zeitig ins Auto gestiegen, um aus dem 170 Kilometer entfernten Schaffhausen pünktlich im Laden zu sein.
Dass Atkinson erst eine Stunde später loslegt, findet sie nicht schlimm, auf Termine wartet man bei ihm eh oft zig Wochen. Fabienne geduldet sich, bis Atkinson, der europaweit zu den besten Tätowierern des traditionellen japanischen Stils gehört, die Farben hergerichtet und seinen Kaffee getrunken hat. Seit Monaten pendelt sie regelmäßig nach Stuttgart, um ihr großflächiges Hautbild fertigstellen zu lassen.
Als Fabienne im hinteren der beiden Tätowierzimmer ihr Kleid abstreift, kommt eine riesige Schlange zum Vorschein. Umspielt von japanischen Pfingstrosen, windet sich das Reptil entlang der rechten Körperseite. Nur in Unterwäsche wird sie die nächsten Stunden auf einem Zahnarztstuhl liegen.
Das große ZielAm Schreibtisch am Fenster sitzt Leon Weidle. Er trägt eine Adidas-Trainingshose, Nike-Sneaker, ein T-Shirt, in seinem Gesicht wächst ein flaumiger Bart. Der 21-Jährige macht gerade das, was er die meiste Zeit macht: er zeichnet. Auf dem Papier vor ihm windet sich eine Schlange, das Maul weit aufgerissen. Sie ähnelt jener, die Atkinson auf den Körper der jungen Schweizerin tätowiert. Immer wieder setzt Weidle neu an, korrigiert den Schwung und die Anordnung der Schuppen. Erst wenn jedes Detail stimmt, paust er sie ab und koloriert die Vorlage. Noch macht er alles: auch klassische Motive wie Totenköpfe und Rosen. In einigen Jahren will er, wie sein Vorbild und Lehrer Atkinson, die traditionellen japanischen Motive beherrschen.
Leon Weidles Morgen begann damit, dass er den Platz seines Meisters Atkinson herrichtete. Weidle hat alles in Folie gepackt, damit es vor Blut- und Farbspritzern geschützt ist: die Arbeitsfläche, die Netzteile der Maschinen, sogar die Sprühflasche mit dem Desinfektionsmittel. Einmalhandschuhe und Papiertücher müssen stets griffbereit sein. Hygiene ist wichtig.
Lieber würde Weidle jetzt selbst tätowieren. Aber er beklagt sich nicht. Er ist seinem Ziel, es einmal so weit zu bringen wie Atkinson, schon einen großen Schritt näher gekommen: Weidle ist jetzt bei Atkinson in der Lehre.
Drei Jahre lang war der gelbe Empfangstresen des Checker Demon Tattoo Studios nicht einfach nur ein Hindernis gewesen, das Leon Weidle von seinem großen Traum trennte. Das lackierte Stück Sperrholz markierte die Kluft zwischen zwei Generationen eines Berufsstandes. Atkinson und Weidle hatten unterschiedliche Vorstellungen davon, was Tattoos über einen Menschen aussagen, weil aus dem Erkennungszeichen von Randgruppen ein Massenphänomen geworden ist. Vor 30 Jahren hat in dieser Branche noch niemand daran geglaubt, dass Tätowierungen einmal in der Mitte der Gesellschaft ankommen würden. Dass selbst die Frau eines Bundespräsidenten (Christina Wulff) ihr Tattoo öffentlich zur Schau stellen und dem, was sich einst nur Außenseiter unter die Haut stechen ließen, den Stempel des Gewöhnlichen aufdrücken würde. Im 21. Jahrhundert sind Tätowierungen fast so normal wie Lippenstift oder Wangerooge….
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