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Der Schmetterlingseffekt

Was braucht es, um den Apollofalter zu schützen? Einen staatlich beauftragten Biologen, Wachmänner und riesige Schutthalden. Denn dieses Insekt darf auf keinen Fall aussterben. Über die Bedeutung eines Flügelschlags.

Am Anfang dieser ganzen verzweigten Geschichte steht ein Mann auf einem Problem. An einem Hang vor einem Steinbruch schaut Adi Geyer auf das, was unter seinen Turnschuhen passiert. Das ungeübte Auge sieht: Steine. Dazwischen einzelne Grashalme, etwas Moos und andere Pflänzchen, die vor sich hinwuchern, und über deren Existenz sich der normale Mensch wenig Gedanken macht. "Aber", sagt Adi Geyer, "man muss die Apollofalterbrille aufsetzen." Mit der sieht man einen Kampf ums Überleben, Konkurrenz um die Vorherrschaft, Gebietskonflikte. Da unten passiert einiges. Es treten an: Moos, Gras und Büsche. Gegen: den Weißen Mauerpfeffer. Für letzteren sieht es schlecht aus.

Geyer schaut mit der Apollofalterbrille in die Zukunft: "Wenn du in zehn Jahren wieder herkommst, haben sich Gras und Büsche durchgesetzt. Und irgendwann ist die ganze Fläche zugewachsen." Gut für das Moos, schlecht für den Weißen Mauerpfeffer, Sedum album oder "der Sedum", wie ihn Geyer nennt. Er ist die Wurzel seiner Arbeit und das erste Glied in einer langen Kette, an deren Ende ein Falter seine zarten Flügel schwingt.

Adi Geyer ist Gebietsbetreuer im Altmühltal, im Auftrag der Landesregierung kämpfte er um das Überleben des Apollofalters, seit mehr als 30 Jahren erforscht er den Parnassius Apollo. Die Menschen in den Dörfern nennen Adi Geyer den Apollofalter-Beauftragten. Denn dass der hübsche Tagfalter einen menschlichen Vertreter braucht, stellt in der Gegend niemand infrage.

Adi Geyer ist ein Mensch, der die Zukunft mitdenkt, wenn er Entscheidungen trifft. Den Strom, den er mit seinem Tesla verbraucht, speist er mit einer Solaranlage auf dem Dach zurück ins Netz. Und ökonomisch betrachtet hat sich das Auto in acht Jahren, das hat er ausgerechnet, "amortisiert". Acht, 100 oder 300 Jahre schaut Geyer voraus, von "Pioniergesellschaften" zu "Klimaxgesellschaften" und nur die eigene Endlichkeit steht ihm im Weg, um die Früchte seiner Arbeit zu sehen und vor allem - zu kontrollieren. Denn für die braucht man ein paar Jahrzehnte Geduld.

Wenn man die Geschichte und das Schicksal des Apollofalters verstehen will, wenn man verstehen will, warum der Staat 30 Jahre lang einen Mann dafür bezahlt, einen Schmetterling vor dem Sterben zu bewahren, muss man in Zusammenhängen denken. Wie die Natur den Menschen, und wie der Mensch die Natur verändert hat, und wie der Mensch seit Jahren versucht, sich bei der Natur für alles, was er ihr antut, zu entschuldigen. Wie ein kaputtes Knie dem Apollofalter im Kleinziegenfelder Tal das Leben rettete. Wie die Steinindustrie, die Globalisierung und politische Eitelkeit sich gegenseitig beeinflussen, und wie der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro und die Gelbbauchunke aneinandergefesselt sind. Eine Kette aus Konsequenzen rasselt um den Globus bei der Frage, was passieren würde, wenn der Apollofalter ausstirbt. "Man kann die Diskussion bis zu den Dinosauriern führen", sagt Geyer.

Aber ganz von vorne. Also von hinten.

Zunächst die wenig überraschende Nachricht: Der Apollofalter ist vom Aussterben bedroht. In Bayern gibt es ihn an zwei Orten außerhalb der Alpen. Im Schwarzwald ist sein Vorkommen erloschen. In einem der letzten Standorte in Deutschland, dem Moseltal, brach der Bestand im vorigen Jahr so heftig ein, dass die Rhein-Zeitung titelte: "Apollofalter vor dem Absturz bewahren". Nun ist der Apollofalter nicht die einzige bedrohte Tierart in Deutschland. Der Weltbiodiversitätsrat veröffentlichte vor zwei Jahren einen Bericht zum Zustand der auf der Erde lebenden Tiere und Pflanzen. Demnach ist etwa eine Million Arten vom Aussterben bedroht, auch einige Schmetterlinge. Allein in Bayern starben in den vergangenen Jahren mehr als 300 Arten aus. Niederländische Insektenforscher wiesen in einer Studie nach, dass seit 1890 mindestens 84 Prozent aller Schmetterlinge in ihrem Land verschwunden seien. So weit, so gewohnt, so schlimm. Aber bemerken wir das Sterben überhaupt?

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https://www.sueddeutsche.de/wissen/artensterben-der-schmetterlingseffekt-1.5312386