Eigentlich dachte ich: Die fetten Jahre sind vorbei. Die letzten Zigarillos ausgedrückt. Die letzten Stern-Firmenautos verpfändet. Die Austernschalen inzwischen Seifenhalter. Oft genug haben mir ältere Journalisten ihre Trauerreden von der guten alten Zeit vorgetragen, von diesem großen Rausch namens „früher". Ich sprach mein Beileid aus und dachte insgeheim: Na, vielleicht funktioniert das Katern paritätischer als die Party.
Ich dachte, jetzt wo die Männer nicht mehr samt „Begleiterin" zum „Anrecherchieren" nach „Ecuador" fliegen dürfen, bleiben wir alle zusammen auf dem Boden. Aber die Cognacfahne hält sich hartnäckig, zusammen mit dem rauschhaften Selbstverständnis, das die Macht des Publizierens entfalten kann: Götter auf Weiß, die Diagnosen für die Bundesrepublik stellen, intellektuelle Infusionen verteilen im Glauben, ohne ihre Beobachtungen würde die Welt einen kollektiven Hirntod sterben.
Göttlichkeit ist angesichts der aktuellen Medienkrise Blasphemie. Was der Journalismus gerade braucht, sind keine „Jahrhunderttalente" wie Relotius. Wir brauchen keine vom Nordwind des Henri-Nannen-Preises, der Höhenluft der Spiegel-Gesellschaftsressort-Leitung und der süßen Brise der Bestätigung getragenen Stars. Die Welt aus Missgunst, Neid und Erfolgsdruck, die auch Juan Moreno in seinem Buch Tausend Zeilen Lüge beschreibt, ist Schuld daran, dass ein Relotius dem Journalismus dermaßen schaden konnte. Wenn der Nachname zur Persönlichkeitsdefinition reicht, weiß man: Mann hat es geschafft. Ein Wort. Ein Name. Ein Versprechen. Augstein, Plasberg, Feldenkirchen, Aust, Poschardt, Reichelt, Broder, Prantl, Martenstein, Fleischhauer. Natürlich reden wir hier über Männer. Das Genie stand den Frauen nie, schon Brechts Ghostwriterinnen haben vom Meister keinen Ruhm, sondern Kinder bekommen.
Ich will keinem dieser Männer ihr Talent absprechen. Guter, genauer, kontroverser, scharfsinniger Journalismus verdient Aufmerksamkeit. Auch uns wird gesagt, dass wir ein Profil brauchen, die richtige Belichtung. Wir werden für eine Welt ausgebildet, in der wir zu Marken werden müssen. Twitter ist Pflicht. Aufmerksamkeit und das richtige Profil sind wichtig. Und das ist okay, aber zu oft ist die Medienbranche mit sich selbst beschäftigt, labelt sich mit Superlativen, sucht das Genie im Dschungel des Who-is-Who. Wer kommt den Politikern am nächsten? Und wer auf die Party? Das Geschachere um Bedeutung läuft Gefahr, zur Überinterpretation von Oberflächlichkeiten zu werden, bis irgendwann in Martin Schulz' Grillzange mehr hineingelesen wird als in den Koalitionsvertrag.
Was wir brauchen, ist Demut, denn wenn wir mal ehrlich sind: Der Cognac ist schon lange leer. Stellen werden abgebaut, die Abozahlen sinken, die Zeitungen kämpfen um ihre Leser . Das Geld für Freie, für große Reportagen, für Reisen - es fehlt. Es ist nicht die Zeit für Eitelkeit, sondern die für Ehrlichkeit. Redakteure übernehmen Doppelstellen, arbeiten bis nachts, verzichten auf ihren Schlaf für schrumpfende Gehälter.
Zu vieles funktioniert noch nicht im digitalen Journalismus und zu vieles funktioniert inzwischen ohne klassischen Journalismus. Talente können, sollen und müssen gefördert werden, aber Ellbogen, Futterneid und Ruhm-Spekulation sind out of time. Wir brauchen keine „Stimmen einer Generation", „Alpha-Journalisten" und „Jahrhunderttalente". Wir brauchen guten Journalismus, jeden Leser und vielleicht eine Aspirin.