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Welche Berechtigung haben Utopien als Nicht-Orte? I Potentiale

Nicht selten taucht das Utopische in Zeitungen, Romanen und Essays auf. Was die Autor:innen damit meinen, variiert jedoch stark. "Utopie", aus den zwei altgriechischen Wörtern οὐ, das für „nicht" steht und τόπος (tópos), das „Ort" bedeutet, abgeleitet, bezeichnet einen „Nicht-Ort". Der Entwurf einer möglichen, zukünftigen, meist aber fiktiven Lebensform oder Gesellschaftsordnung, die nicht an zeitgenössische historisch-kulturelle Rahmenbedingungen gebunden ist. Oder anders gesagt: Eine Utopie zeichnet sich genau dadurch aus, dass sie zur Zeit ihrer Entstehung als nicht realisierbar gilt.

Aber welchen Sinn und Zweck erfüllen Utopien dann überhaupt?

Spätestens seit Ausbruch der Corona-Pandemie, so könnte man den Eindruck gewinnen, haben Zukunftsvisionen keinerlei Daseinsberechtigung mehr. Zurück zum business-as-usual muss wohl ausreichen.

Normalität ist die neue Utopie!

Verständlich, der Mensch sehnt sich nach Stabilität und Sicherheit. Aber die Frage, die sich dennoch stellt, ist: Leben wir nicht schon lange in einer Art gelebter Dystopie? Sind nicht die Klima- und Migrationskrise - um nur zwei zu nennen - Indiz genug? Dafür, dass es so nicht weitergehen kann? Dafür, dass neue Wege gefunden werden müssen, um ein Fortbestehen des Planeten und der wachsenden Bevölkerung gewährleisten zu können? Bedeutet nicht ein Zurück zur Normalität zugleich den Verrat und die Aufgabe an uns selbst?

Wohlmöglich ein guter Zeitpunkt, um nach den Voraussetzungen utopischen Denkens unter den Bedingungen seiner Unmöglichkeit zu fragen.

Denn sind Utopien nicht gerade aus krisengeprägten Zeiten hervorgegangen? Weil sie das Bestehende hinterfragt und auf dieser Kritik aufbauend, eine bessere Welt ersinnt haben? Sie gründen auf der Erfahrung von Unrecht und Leiden, sind die Negation des Negativen. Und die Kritik ist damit vielleicht sogar zentraler und dem Wesen der Utopie näher, als die vermeintlich erträumte Wunschwelt. Möglicherweise ist sie auch ein Grund dafür, weshalb kaum eine Utopie vollends zur Verwirklichung gebracht wurde. Bereits Thomas Morus, der mit seiner Insel „Utopia", wie er sie 1516 nannte, als einer der Gründerväter der Sozialutopie gilt, konnte seine Vision einer vollkommenen Gesellschaft nicht realisieren.

Des einen Utopie ist des anderen Dystopie.

Auch das scheint ein Grund für ihre Unumsetzbarkeit zu sein. Schon durch die skizzenhaften Umschreibungen wird die Ambivalenz der utopischen Überhöhung deutlich. So manches Bild vom besseren Leben lässt Zweifel aufkommen, ob das in ihm Gezeichnete wirklich wünschenswert ist. Oder ob das Negative, gegen das es sich wendet, nicht in verwandelter Gestalt, oder gar verstärkt wiederkehrt. Oder sich nur auf Kosten anderer realisieren ließe. Der Drang zum Besseren entpuppt sich als Drang zum Besten, zum Letzten und Endgültigen. Sollte die Utopie also reine Kritik bleiben und gar keinen Gegenentwurf formulieren? Oder entfaltet sie erst in der Antizipation des Anderen ihr Potential?

Warum braucht Utopie den Vorgriff auf eine bessere Welt?

Lebt sie nicht gerade durch die Strahlkraft ihrer gezeichneten Bilder? Dem Philosophen Ernst Bloch zufolge, bedürfen wir Menschen eben dieser. Bilder und Fantasien gehen den Gedanken voraus, und die Gedanken den Forderungen und der politischen Praxis. Indem wir uns ein Morgen ausmalen, erkennen wir, wo es in der Gegenwart hakt. Die Macht des Utopischen gründet also nicht nur in der Kraft des Negierens, des Hinausgehens über das Bestehende, sondern auch in der schöpferisch-imaginativen Kraft des Sehens. Vielleicht heißt sie deshalb Utopie.

Weil sie radikale Transzendenz ist.

Die Utopie ist das Hinausgehen über die faktische Welt und bleibt zugleich eine Projektion ins Nirgendwo bleibt. Und doch, trotz ihrer Unmöglichkeit, hat allein der Diskurs, der durch Utopien entsteht, die Welt und wie wir sie wahrnehmen, bereits verändert. Denn im offenen Gespräch und in immer neuen Selbst-und Weltbeschreibungen werden Vorstellungen vom gelungenen Leben zur Diskussion gestellt. Und dort, wo Entwürfe einer lebenswerteren Welt entwickelt werden, beginnt auch ihre Realisation.

sinneswandel.art Text: Marilena Berends Portrait-Foto: Philipp Bachhuber Foto Übersicht: Feldhotel am Montfjord 2015 (c) Nikolaus Skorpik Foto Mitte links: POTENTIALe Festival 2017, "Astronaut" Installation Nadine Hirschauer (c) Patricia Keckeis Foto Mitte rechts: POTENTIALe Festival 2017, "LAVA Award" Ausstellung nominierte Arbeiten, Karin Ospelt (c) Patricia Keckeis Foto unten: POTENTIALe Open Call 2018, Installation "Schichten" von N. Gutwenger, N. Hirschauer, A. von Alten und U. Gaisbauer (c) Patricia Keckeis

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