Indiens BJP-Politiker versuchen, die Vermittlung von Hindu-Kulturgut an allen Schulen festzuschreiben. Andere dagegen wandern lieber für die Einheit der Religionen Tausende Kilometer durchs Land.
Es ist ein leiser, fast lautloser Aufbruch. Ehe der erste Anflug von Tageslicht zu erahnen ist, treten siebzig Gestalten auf die grosse Strassenkreuzung, die bereits von Berufspendlern bevölkert wird. Teeverkäufer schenken auf Handkarren Gläser mit dampfendem Chai aus. Noch liegt über Trivandrum, der Hauptstadt von Indiens südlichstem Gliedstaat, Kerala, ein Schleier von Müdigkeit. Doch das Tempo der Gruppe ist flott. Keiner redet. Abgesprochen ist das weisse Hemd, das alle tragen. Manche halten eine Fahne in der Hand, auf der kreisförmig die Symbole der Weltreligionen angeordnet sind. Das Om-Zeichen, das Kreuz, Halbmond und Stern, der Davidsstern, das Feuer der Zoroastrier und einige andere Embleme.
Marsch der Hoffnung
Eine Demonstration? Ein Protestmarsch? Kurz nach dem Start sind alle Blicke auf den sonderbaren Menschenzug gerichtet. Ein älterer Herr legt Flugblätter in die ausgestreckten Hände von Rikschafahrern, Gemüsehändlerinnen und Männern in Anzügen. Auf jedem Zettel ist eine Karte Indiens abgebildet, die von einer Zickzacklinie durchkreuzt wird. Entlang dieser Linie verläuft der Walk of Hope, eine anderthalb Jahre dauernde Wanderung von der Südspitze Indiens nach Kaschmir. Die Padyathris, Sanskrit für Fusspilger, wollen bis Mitte 2016 eine Strecke von 6500 Kilometern zurücklegen. Neben der Karte steht eine Erklärung ihrer humanitären Ziele, etwa ganzheitliche Bildung, flächendeckende Gesundheitsversorgung und nachhaltige Landwirtschaft. Fragt man Sri M., den spirituellen Lehrer und Initiator des Walk of Hope , erfährt man einen weiteren Wunsch, vielleicht den wichtigsten - nämlich das Bewusstsein der Inder für ihr spirituelles Erbe zu stärken.
Gäbe es nicht den indischen Brauch, einer Respektsperson bunte Blumengirlanden um den Hals zu legen, würde man den Anführer der Gruppe nicht sofort erkennen. Sri M., oder einfach nur M., kurz für Madhukarnath, ist ein mittelgrosser Herr von unscheinbarer Erscheinung, mit Stoppelbart, das graue Haar sorgfältig nach hinten gekämmt. Als Kerali trägt er den südindischen Dhoti, ein weisses Baumwolltuch, das um die Hüften gewickelt wird. Der wache Blick des 66-Jährigen ist ständig nach vorne gerichtet, auch wenn er sich unterhält. "Indiens Problem liegt nicht darin, dass wir verwestlicht wurden. Das Problem ist, dass wir die Wurzeln unserer Kultur verloren haben", sagt Sri M. Das Herzstück der indischen Kultur, das sei die Erkenntnis von der Einheit aller Menschen. Damit meine er nicht Gleichheit, wie sie im Westen verstanden werde, sondern eine tiefe Verbundenheit aller Menschen in ihrem Inneren. Passenderweise heisst Sri M.s Vereinigung Manav Ekta Mission (Einheit der Menschen).
Sri M. wurde in Indien für seine spirituellen Kolumnen in der "Times of India" bekannt. Manche nennen ihn einen "modernen Heiligen", andere schätzen die Einfachheit, mit der er alte Weisheiten neu aufbereitet. Seine Autobiografie "Apprenticed to a Himalayan Master" avancierte nach ihrem Erscheinen im Jahr 2010 zum landesweiten Bestseller und wurde mit Swami Yoganandas "Autobiografie eines Yogi" verglichen, jenem Klassiker, der in den sechziger Jahren indische Spiritualität im Westen popularisierte. Was Swami Yogananda als Exportgut in die USA brachte, will Sri M. nun im eigenen Land wiederbeleben.
Von "Wiederbelebung" wird in Indien in diesen Tagen viel gesprochen. Ein lauter Aufbruch ist der bahnbrechende Wahlsieg von Premierminister Narendra Modi und seiner Partei, der als hindu-nationalistisch geltenden BJP. Eine Grundlinie in Modis Politik ist die Stärkung hinduistischen Kulturguts . Gut fünf Monate nach Amtsantritt ernannte Modi Indiens ersten Yoga-Minister, während unlängst BJP-Politiker im Teilstaat Rajasthan Yogaübungen im Morgenappell aller weiterführenden Schulen festschrieben. Regelmässig kommen in anderen Landesteilen ähnliche Vorstösse hinzu, so wie die Einführung von Pflichtunterricht in Sanskrit und den hinduistischen Schriften im nordindischen Gliedstaat Haryana, durchgesetzt von der dortigen BJP-Landesregierung. Jede dieser Reformen provoziert Widerstand bei Muslimen, Christen und jenen, die Indiens Säkularismus bedroht sehen.
Vielfalt statt Hindutva
In der Tageszeitung "Deccan Herald" warnte kürzlich ein muslimischer Kommentator vor dem Erstarken der Hindutva, was übersetzt so viel wie Hinduheit bedeutet. Viele in der BJP fühlen sich dieser Ideologie mit Wurzeln in den 1920er Jahren verbunden, die neben der Forderung nach einem hinduistischen Gross-Indien vor allem für ungeschminkte antimuslimische und antichristliche Propaganda bekannt ist. Die Hindutva lieferte in den letzten Jahrzehnten das Öl, wann immer Feuer aufloderten - am berüchtigtsten die Zerstörung der Babri-Moschee in Ayodhya durch fanatische Hindus von 1992. Damals kamen bei Unruhen über 200 Menschen um. Den Umgang mit den Extremen in seiner Partei sehen Analysten als eine von Modis grössten Herausforderungen.
Braucht Indien den Walk of Hope also gerade jetzt? Sri M. schüttelt den Kopf. Die Zeit für den Marsch sei schon lange überfällig gewesen, doch er selbst erst jetzt dafür bereit. Bereits als 19-Jähriger wanderte Sri M., geboren als Mumtaz Ali Khan, drei Jahre lang über den Himalaja und liess sich durch einen Guru in die Geheimnisse von Yoga und Meditation einführen. Was Sri M.s Geschichte für viele in Indien so aussergewöhnlich macht, ist nicht, dass ein Einwohner Keralas seine Heimat verliess, um Tausende Kilometer nordwärts in die Berge zu reisen, sondern vor allem, dass er nicht als Hindu, sondern in eine muslimische Familie geboren wurde. Dieser interkonfessionelle Hintergrund bringt Sri M.s Walk of Hope Glaubwürdigkeit bei allen Religionsgemeinschaften ein. Jetzt, wo sich der Walk an Keralas Malabarküste entlangbewegt, erzählt er oft von der Toleranz, die man hier pflegte: "Als Erstes kamen die Christen her und wurden warm begrüsst. Genauso war es mit den arabischen Kaufleuten, die den Islam brachten. Selbst die Portugiesen wurden mit offenen Armen empfangen." Sri M. lacht. Man habe nicht gewusst, was die Ausländer wirklich im Schilde führten. "Doch irgendwo unterwegs haben wir diese Grundhaltung der Einheit zurückgelassen."
Inzwischen hat die Wandergruppe die Vororte von Trivandrum erreicht. Ordner bemühen sich, Autos um den Zug zu lotsen. Die Route wird in den nächsten Monaten oft auf Hauptstrassen verlaufen, um möglichst viele Menschen zu erreichen. In Kerala scheint das zu klappen: In regelmässigen Abständen teilen Einheimische am Wegesrand Wasserflaschen an die Läufer aus. Andere stossen unterwegs hinzu, spontan oder weil sie in der Zeitung vom Walk of Hope gelesen haben.
Am späten Vormittag hält der Marsch vor einer syrisch-katholischen Kathedrale an. Papst Franziskus blickt mit wohlwollendem Lächeln von einem kitschigen Wandaufkleber auf die Gruppe. Vor dem Pfarreiheim wartet schon der Oberpriester an einem Tisch, der mit Milchtee und Gebäck gedeckt ist. Er trägt eine orange Kutte, die mit einem überdimensionalen Rosenkranz geschmückt wird. In seiner Ansprache würdigt der Priester den Walk of Hope und betont, wie wichtig Sri M.s Arbeit für das Indien von heute sei. Viele weitere Religionsvertreter und Politiker werden es ihm gleichtun, wenn der Marsch in den nächsten Monaten in Richtung Norden strebt. Tempel, Moscheen, Kirchen, Heiligengräber und Aschrams stehen nicht nur wegen ihrer Bedeutsamkeit für Sri M.s Mission auf dem Besuchsprogramm, sondern auch, weil man an diesen Orten bereitwillig ein Nachtlager für die Fusspilger vorbereitet.
Eine innere Reise
Einer von ihnen stellt sich als Srikrishna Kulkarni vor, aus Bangalore. Der 51-Jährige mit Schnurrbart und freundlichem Gesicht war Vorsitzender von Panasonic in Indien und leitete zuletzt eine Firma für Robotertechnik. Srikrishna gehört zum Kern der Gruppe und läuft seit dem Startschuss am 12. Januar mit. Um bis zum Ziel dabei sein zu können, löste er seinen Betrieb auf und handelte sich einigen Ärger mit seiner Frau ein. Für ihn sei der Walk aber mehr als nur eine lange Wanderung durch die Heimat. "Sri M. erinnert uns jeden Abend daran, dass dies für alle von uns auch eine innere Reise sein muss. Das bedeutet, an sich selbst zu arbeiten", meint Srikrishna. Dafür biete ihm der Marsch eine einmalige Gelegenheit. "Was bringt die äussere Reise, wenn du keine Liebe für deine Mitmenschen empfinden kannst?"
Es sind Leute wie Srikrishna, mitten aus dem Leben, nicht Aussteiger und Hippies, die sich dem Walk of Hope angeschlossen haben: das indische Pärchen aus San Francisco, der pensionierte Physikprofessor aus Delhi oder der Informatiker aus Chennai, der Sri M.s Buch im Zug von einem Mitreisenden geschenkt bekam. Viele Kilometer liegen vor ihnen. Nicht jeder Teilstaat wird für Sri M. ein Heimspiel, wie es das grüne Kerala ist. Wüsten, kaum besiedelte Landstriche und das überbevölkerte Uttar Pradesh im Norden können zum Test werden. Laut Plan soll die Gruppe im Februar 2016 Delhi erreichen. Dort ist auch ein Treffen mit Modi geplant.
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