Einer der grössten Bollywood-Klassiker spielt im Berner Oberland. Seit über zwanzig Jahren läuft der Film bereits in einem Mumbaier Kino - und schlägt damit alle Rekorde.
Es ist ein Tag wie jeder andere am Maratha Mandir. "Mandir" bedeutet auf Hindi "Tempel". Allerdings hat der funktional-kantige, gelb getünchte Fünfziger-Jahre-Bau im Zentrum Mumbais wenig mit dem Schnörkel eines Hindu-Schreins gemeinsam. Gut dreissig Männer in Schlabberhosen und ausgebeulten Hemden lungern gelangweilt vor dem Kino und warten auf Einlass. Ein Teenager im schmuddeligen weissen Schalwar-Anzug blickt noch einmal auf das Filmposter und in die Gesichter seiner Lieblingsstars, die gleich über die Leinwand tanzen werden. Dann öffnen sich die grossen Türen.
Das Foyer des Kinos hat etwas von verflogenem Glamour: holzverkleidete Wände, ein verspiegelter Treppenaufgang und schummerlichtige Kronleuchter an einer pink gestrichenen Decke. In diesem Ambiente hofft Snackverkäufer Lalji, der seit fünfzehn Jahren im Maratha Mandir Chips, Popcorn und würzige indische Knabbereien verkauft, auf den Appetit der Besucher. Über seinem Counter hängt ein Warnschild: "No spitting!"
Wer an diesem Mittwochvormittag im Dezember ein Ticket zum Preis von 25 Rupien (rund 40 Rappen) für einen der Balkonplätze in der Matinee-Show erstanden hat, kommt höchstwahrscheinlich nicht zum ersten Mal hierher.
1165. VorstellungswocheDenn auf dem Programm steht der berühmte Bollywood-Klassiker "Dilwale Dhulania Le Jayenge", zu Deutsch "Wer zuerst kommt, kriegt die Braut". Seit Oktober 1995 läuft "DDLJ", wie man den Film in Mumbai lässig abkürzt, im Maratha Mandir jeden Tag aufs Neue. Inzwischen befindet sich die Romantik-Komödie mit Shahrukh Khan, einem der erfolgreichsten indischen Filmschauspieler, in der 1165. Vorstellungswoche.
Der schlitzohrige Raj, aufgewachsen mit seinem weltoffenen Vater in England, trifft auf einer Europareise die schöne Simran, die aus einer konservativen Hindufamilie stammt.
Trotzdem haben heute wieder gut hundertfünfzig Kinogänger auf den braunen, knarzenden, zum Teil löchrigen Ledersesseln Platz genommen. Im Saal riecht es nach Mottenkugeln. Deckenventilatoren wirbeln die selbst im Winter drückend heisse Mumbaier Luft auf. Dann geht es los: Auf der Leinwand empfängt ein Frauengesicht zusammen mit gefalteten Händen die Zuschauer. Dem "Namaste"-Gruss folgt die indische Nationalhymne. Nach der Stehrezitation machen es sich die Zuschauer bequem. Vor ihnen liegt ein dreistündiger Schmonzettenmarathon.
Selbst ohne Hindikenntnisse offenbart sich die Handlung von "DDLJ" schnell: Der schlitzohrige Raj, aufgewachsen mit seinem weltoffenen Vater in England, trifft auf einer Europareise die schöne Simran, die aus einer konservativen Hindufamilie stammt. Obgleich Simrans strenger Vater schon Hochzeitspläne für sie schmiedet, will Simran lieber selbst die Liebe ihres Lebens aufspüren. Raj ist sich sicher, dass er das ist, und flirtet mit Simran, was das Zeug hält. Spätestens als Simran im Berner Oberland ihren Zug nach Zürich verpasst und Raj sie stattdessen in einem spritzigen Cabrio durch die Landschaft chauffiert, nimmt die Liebesgeschichte ihren Lauf.
Im Dunkeln des Kinosaals ist immer etwas in Bewegung: Zuspätkommer werden von einem Wächter mit Taschenlampe durch die Sesselreihen geleitet, auch noch in der zweiten Filmhälfte. Während der Nachbar bereits nach einer halben Stunde eingenickt ist, kommen aus der hinteren Sitzreihe regelmässig Zwischenrufe. Einige sprechen sogar ganze Dialoge mit, die sie längst in- und auswendig können - ein Sport unter waschechten Bollywoodfans.
Viele im Saal haben den Film schon Dutzende Male gesehen, sind mit den Charakteren durch den alpinen Schnee gestapft und haben sich in die Schauspielerin Kajol verliebt. Während Shahrukh Khan nach der zehnminütigen Pause mit seiner Angebeteten im Arm durch ein Feld von gelben Senfblüten tanzt, wird im Takt geklatscht und lauthals mitgesungen. Als in der spannungsgeladenen Schlussszene endlich auch der notorisch unbeugsame Vater dem verzweifelten Liebespaar seinen Segen gibt, applaudiert und johlt das Publikum - als ob man überrascht wäre, wie der Film ausgeht.
In Mumbais schnelllebiger Filmindustrie, aus der pro Jahr über eintausend Streifen hervorgehen, ist ein Filmtheater wie das Maratha Mandir inzwischen Kult.
Die Euphorie sei bei jeder Vorstellung dieselbe, deutet der Manager an, der in einem kleinen Büro seit zehn Jahren die Geschicke des Kinos lenkt. Manoj Pandey trägt einen Schnurrbart und ein gestreiftes Hemd. Auf seinem Schreibtisch liegt ein Plan des Maratha Mandir mit 1107 durchnummerierten Sitzplätzen. Pandey ist selbst ein grosser "DDLJ"-Fan, genauso wie seine Kinder im Alter von fünf und zehn Jahren, mit denen er manchmal in der Vorstellung sitzt.
Träume haben nichts an Reiz verloren"Die Menschen identifizieren sich mit ihren Helden", erklärt Pandey den Erfolg des Films. "Solch ein Film wird heute nicht mehr gedreht!" Zu sehr habe sich die Bollywood-Industrie verändert. Doch die Freiheit einer Reise durch das ferne Schweizer Alpenparadies, verbunden mit dem Versprechen von selbstbestimmter Liebe anstatt arrangierter Ehen - diese bunten Träume aus den neunziger Jahren haben in Indien nichts an Reiz verloren.
In Mumbais schnelllebiger Filmindustrie, aus der pro Jahr über eintausend Streifen hervorgehen, ist ein Filmtheater wie das Maratha Mandir inzwischen Kult. Kommerziell lohne sich "DDLJ" für das Kino seit einigen Jahren schon nicht mehr, meint Pandey. Doch das sei nicht das Kriterium: "Der Film läuft für die Herzen der Menschen." Als Pandey "DDLJ" 2015 aus dem Programm nehmen wollte, löste er damit einen grossen Fan-Proteststurm aus. Die Entscheidung wurde schnell wieder rückgängig gemacht. "Die Menschen schätzen es, in einem Kino mit Charakter zu sitzen. Wir sind eines der letzten Singlescreen-Häuser in Mumbai", sagt Pandey.
Gegenüber von Pandeys Büro hängt ein Gemälde, auf dem die Göttin Parvati ihrem Gottesmann Schiwa voller Verzückung kniend eine Lotosblüte überreicht. Rührende Liebesgeschichten gab es in Indien auch schon lange vor Shahrukh Khan.
Vor dem Filmtempel haben sich mittlerweile Gäste für die Nachmittagsshow angesammelt, gezeigt wird eine aktuelle Produktion aus Indiens Traumfabrik. Doch wird diese wohl nach einigen Wochen oder Monaten ihr Haltbarkeitsdatum erreichen. Für "DDLJ" hingegen ist vorerst kein Ende in Sicht.