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Der Zug zu Babel

Nirgends lässt sich die Vielfalt des indischen Subkontinents besser erleben als in einem Zug der Indian Railways – nur schon der vielen Sprachen wegen, die in den Waggons gesprochen werden. Unterwegs auf einer der längsten Zugreisen Indiens.

In Indien hupen selbst die Züge. Ein langgezogener Ton, laut und durchdringend. Dann setzen sich die Waggons in Bewegung, so langsam, dass man ein gutes Stück noch daneben mitjoggen könnte. Mit einer Minute Verspätung ist der Himsagar-Express von der Station Kanyakumari Junction abgefahren. Der südlichste Bahnhof Indiens liegt an der Spitze des Subkontinents, dem Kap Komorin. Nur eine Minute Verspätung, das ist ein gutes Omen für so eine lange Fahrt. Gemächlich taucht der Express in ein Meer von sattem Grün. Dichte Palmenwälder verschlucken hier die Anzeichen menschlichen Lebens. Sporadisch erscheinen in der Vegetation Lehmhütten, vor denen Ziegen angebunden sind und Gruppen von Kindern auf grünen Feldern Kricket spielen. Frauen in bunten Saris sind wie die Farbtupfer auf einer riesigen Leinwand.

Wenig Raum für Intimitäten

Der Beginn dieser 73-stündigen Reise, deren Ziel die Stadt Jammu im äussersten Norden Indiens ist, hat etwas Beruhigendes, ist geradezu meditativ. Die tropische Mittagsluft Südindiens strömt durch die offenen Fenster und hüllt die noch wenigen Fahrgäste in eine leichte Lethargie. Erst in Trivandrum, der Hauptstadt des Bundesstaats Kerala, sprudelt mit aller Kraft das Leben in den Wagen. Sieben neue Mitfahrer drängen ins Abteil, rangeln um Stauraum für ihre Gepäckstücke und machen es sich auf den Bänken bequem.

Dann kehrt wieder Ruhe ein. Im Takt der anfahrenden Eisenbahn wackeln die Köpfe, und die Reisenden gewöhnen sich aneinander. Manche werden schon bald aussteigen, andere werden viele Stunden Reisezeit miteinander teilen. Für Intimitäten bleibt da wenig Raum. Eine Mutter am Fenster hebt die Stoffbahnen ihres Saris an und legt ihr Baby zum Stillen an die Brust. Der in Seide eingehüllte Säugling nuckelt noch, als die ersten Schatten der Dämmerung bereits über die Landschaft ziehen.

Bhim Singh, der in den Fünfzigern sein muss, hat schon viele solche Fahrten mitgemacht. Um im beständigen Fahrtwind nicht krank zu werden, hat er sich einen roten Strickpullover angezogen. Die Brille auf Herrn Singhs Nase ist ein Anzeichen, dass er zur gebildeten Mittelschicht Indiens zählt. Neben ihm, in der Mitte von Wagen S5, Sleeper Class, sitzt seine Frau, die pünktlich zur Abendessenszeit in einer Provianttasche zu kramen beginnt. Auf der Sitzbank breitet sie verschiedene Gerichte aus. "Gibt es in Europa auch Chapati?", fragt Herr Singh und zeigt auf die kreisrunden Brotfladen, die seine Frau gebacken hat. Herr Singh arbeitet als Hindilehrer in Kudankulam im Bundesstaat Tamil Nadu. Seine Heimat liegt in Uttar Pradesh, mehr als 3000 Kilometer Eisenbahnstrecke von seinem Arbeitsplatz entfernt. Ein paar Mal im Jahr nimmt er mit dem Himsagar-Express die lange Reise auf sich - über eine grössere Entfernung als von Paris nach Moskau.

Die Spielregeln des Zugreisens kann Herr Singh wie die Anleitung eines Brettspiels erklären: "Die Schlafenszeit bei den Indian Railways ist von neun am Abend bis sechs in der Früh. Das müssen alle Reisenden befolgen." In der Praxis bedeutet das für den Reisenden das Recht, den Nachbarn um Punkt neun von seiner reservierten Schlafbank zu verbannen, die tagsüber als Sitzbank dient. Das Rückenpolster wird hochgeklappt und zu einem weiteren Bett umfunktioniert. Unter-, Mittel- und Oberliege auf beiden Seiten bilden pro Abteil sechs Schlafstätten.

Die Indian Railways sind im Kleinen wie eine Metapher für das Land Indien im Grossen: Trotz allen Makeln - ein kompliziertes Reservierungssystem, notorische Zugverspätungen und dauerhafte Überfüllung in den veralteten Waggons - funktioniert die gigantische Eisenbahngesellschaft irgendwie. Über 30 Millionen Reisende transportieren die Indian Railways auf 65 000 Schienenkilometern laut eigener Statistik jeden Tag. Das ist mehr als die Bevölkerung von Belgien und den Niederlanden zusammen.

Vom Kap ins Kauderwelsch

Bhim Singh liebt seine Sprache Hindi und unterrichtet sie aus Leidenschaft. Während unser Zug noch die Südstaaten des Landes durchquert, ist in den Waggons kein Hindi zu hören. "Viele hier unten können kein einziges Wort Hindi", sagt Herr Singh etwas empört. Wenn es nach ihm ginge, sollte man seine Muttersprache in ganz Indien einführen. "In unserer Verfassung steht Hindi nach Englisch schliesslich an zweiter Stelle."

Hindi ist mit rund 300 Millionen Muttersprachlern die meistgesprochene unter den indischen Sprachen. In Südindien dominiert jedoch eine ganz andere Sprachfamilie, deren lange und vokalreiche Wörter dem Nordinder völlig seltsam erscheinen. Im Schriftbild unterscheiden sie sich von Hindi, das stets an der geraden Linie über den Wörtern zu erkennen ist, von der wie an einer Wäscheleine die Buchstaben herunterbaumeln.

Die Schriften des Südens hingegen, Tamil, Malayalam, Telugu und Kannada, sind rund und geschwungen. Ihre Buchstaben machen Loopings, und mitunter kleben Kringel, Schleifen oder Häkchen an ihnen. Für Bhim Singh sieht ein in Tamil gemaltes Schild an seinem Arbeitsplatz genauso fremd aus wie für einen europäischen Touristen. Erst am Morgen des dritten Reisetags stösst der Himsagar-Express in den Hindi-Sprachraum vor, der sich von Mittelindien über weite Teile des Nordens erstreckt. "Weisst du, warum unser Zug Himsagar-Express heisst?", fragt Herr Singh, sichtlich in seinem Element. "Him" bedeute auf Hindi Berg und "Sagar" sei das Meer, erklärt er. Logisch: Man steigt dort ein, wo Indien in die Weltmeere hineinragt. Am Zielbahnhof von Jammu wiederum ist nach 3715 Kilometern und elf Bundesstaaten fast schon das Himalajagebiet erreicht.

Bhim Singh und seine Frau verlassen den Zug am Bahnhof von Neu-Delhi, wo sie in den nächsten Zug umsteigen müssen. Der Himsagar-Express huldigt der Hauptstadt mit geschlagenen 150 Minuten Aufenthalt. Dann rollt er weiter in den Bundesstaat Punjab, in dem laut Herrn Singh die kräftigsten Menschen Indiens leben. Das läge am übermässigen Brotverzehr der Punjabi, hat er erklärt. Gute fünf Stunden vor dem Ziel besteigt eine Gruppe Punjabi den Himsagar-Express. Zwei wuchtige punjabische Frauen kommen in den Wagen. Sie setzen sich zwischen die tamilischen Nonnen und den Muslim aus Uttar Pradesh. Wollten diese Passagiere miteinander sprechen, müssten sie wohl Zeichensprache verwenden.

Während der Zug Kurs auf den Bundesstaat Jammu und Kaschmir nimmt, fangen die beiden Punjab-Frauen mit dem Nachmittagspicknick an. Dicke runde Chapatis kommen zum Vorschein. Ununterbrochen schnattern die beiden Frauen, aber nicht auf Hindi, sondern in ihrer Landessprache Punjabi. Was sie sich zu sagen haben, bleibt ein Rätsel. Herr Singh wäre wohl schon wieder ein bisschen frustriert gewesen.

Erschienen in der Neuen Zürcher Zeitung vom 30. Mai 2014, online: http://www.nzz.ch/lebensart/reisen-freizeit/der-zug-zu-babel-1.18311598



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