Herr Schami, an Ihrem letzten Erzählabend Ende April haben Sie das getan, wofür Sie berühmt sind - Sie haben Geschichten aus Damaskus erzählt, bis das Publikum die Stadt hören und riechen konnte. Aber Sie sind nicht direkt auf die aktuelle Lage in Syrien eingegangen. Warum nicht?
Ich habe zuerst, wie ich das immer mache, eine Hintergrundanalyse der Situation geliefert. Aber ich sprach mit Absicht nicht über die aktuelle Lage, dafür war der Abend nicht gedacht. Er sollte eine Liebeserklärung an Damaskus sein. Ich bin sicher, das Publikum hat danach Damaskus ins Herz geschlossen - so klangen auch die Rückmeldungen der Zuhörer. Das ist mein Plan gegen die Gleichgültigkeit und das Vergessen. Damaskus darf nicht vergessen werden, sonst ist die Stadt verloren. Für die Diskussion der aktuellen Lage gibt es andere Veranstaltungen, an denen ich auch teilnehme.
In Syrien scheint es für uns kaum mehr möglich, Gut und Böse auseinanderzuhalten. Wie kommt das?
Ich sehe bei unseren Medien die Unfähigkeit, eine kontinuierlich professionelle und zuverlässige Berichterstattung zu liefern. Die Neigung von heutigen Medien zur Vereinfachung eines komplizierten Konflikts und zu dessen Reduzierung auf "Gut" und "Böse" macht es einem Normalsterblichen fast unmöglich, die Ereignisse zu verstehen. Ich halte diese Entwicklung für sehr gefährlich und beobachte eine ähnliche Tendenz bei der Ukraine-Berichterstattung.
Nun ist eine Berichterstattung vor Ort zurzeit äussert gefährlich, und von weitem erscheint die Situation extrem unübersichtlich. Mit welchen Mitteln informieren Sie sich über die Lage in Syrien?
Es gibt eine Vielzahl an Medien, die nach wie vor Korrespondenten vor Ort haben, etwa al-Jazira, Orient TV, BBC und France 24. Es werden Aufnahmen, Interviews, Essays und Analysen produziert, die in den liberalen libanesischen Medien wie "An-Nahar" und "Al-Hayat" oder oppositionellen syrischen Medien wie "Al-Mudun" und "Syrian Safahat" erscheinen. Nicht zuletzt führe ich fast täglich Telefonate mit Freunden, die noch im Land leben oder gerade erst ins Ausland geflüchtet sind.
Haben Sie in Anbetracht der Abwärtsspirale der letzten drei Jahre in Syrien die Hoffnung verloren?
Zwischendurch befällt mich eine grosse Trauer angesichts der Zerstörung, die das Regime dem Land zufügt hat. Und das nur, weil eine Sippe das Land als ihr eigen betrachtet und nicht gehen will. Diese Trauer wird begleitet von der Bitterkeit, dass die Syrer alleingelassen werden, dass nicht einmal Flüchtlinge und Kinder Hilfe bekommen. Da ist die Hoffnungslosigkeit nicht weit. Aber dann richte ich mich auf und sage mir, dass ich kein Recht auf Hoffnungslosigkeit habe. Solange Menschen in meinem Land hungern, frieren und Angst haben und solange sie für die Freiheit sterben, ist es für Leute wie uns, die in Frieden leben, ein herzloser Luxus, die Hoffnung aufzugeben. Ich werde immer die Hoffnung im Herzen tragen, dass nach diesem dunklen Tunnel ein Licht kommt.
Sie nannten an Ihrem Erzählabend die Sippe ein prägendes Element der arabischen Kultur. Bietet sie auch eine Erklärung für den Krieg in Syrien?
Der Begriff "Sippe" umfasst mehr als nur Familie; sie ist ein gesellschaftliches System. Sie bietet bedingungslose Solidarität, wenn der Sippenangehörige sich im Recht befindet - und leider auch wenn er im Unrecht steht. Die Sippe verleiht Geborgenheit, lässt aber dafür keine individuelle Entwicklung, geschweige denn Opposition zu. Deshalb galt und gilt der Oppositionelle in der arabischen Kultur selten nur als Gegner, sondern oft als Verräter, als bedrohlicher Feind. In der Moderne ist dies ein grosses Hemmnis auf dem Weg der demokratisch-freiheitlichen Entwicklung. Für die Angehörigen der Asad-Sippe ist die Verbindung zu Syrien viel schwächer als die zu ihrem Anführer. Nationalismus, Sozialismus oder Liberalismus spielen weniger eine Rolle als die Loyalität zur eigenen Sippe.
Liegt im Kampf für die Sippe der Grund für den "langen Atem" Asads?
Oft sucht man den Grund darin, dass man die solide Front der Freunde Asads - primär Iran und Russland - der Laschheit der Freunde des syrischen Volkes im Westen und der Türkei gegenüberstellt. Das mag ein Faktor sein, aber meiner Meinung nach liegt der Hauptgrund woanders: Asads Ziel ist einfach, deshalb ist es für ihn leichter, seine Front zu halten. Sein Ziel lautet allein, die Macht der Asad-Sippe zu erhalten, koste es, was es wolle. Die Instrumente dafür hat das Regime vierzig Jahre lang in Ruhe und mit Sorgfalt entwickelt. Es kannte dabei keine Hemmung, mit allen Geheimdiensten der Welt, auch den deutschen, amerikanischen und israelischen, mit Islamisten und Kommunisten zusammenzuarbeiten. Es empfindet auch nichts dabei, das Land mit Raketen und Giftgas zu beschiessen, wenn es seinem einzig heiligen Ziel dient.
Welche Ziele verfolgen überhaupt noch die Gegner Asads?
Hier sieht es gar nicht so solide aus. Die gegnerische Front steht nur für ihr Zwischenziel zusammen, welches das Ende von Asads Herrschaft ist. Ich will versuchen, in Prozenten die Ziele der Revolutionäre einzuschätzen. Sagen wir, 95 Prozent von ihnen wünschen sich den Sturz Asads. Aber das ist nicht das Endziel der Revolution. Vielleicht 70 Prozent wollen ein freiheitlich-demokratisches System errichten, 60 Prozent wollen soziale Gerechtigkeit, 50 Prozent wollen Staat und Religion trennen, 40 Prozent wollen Militär und Politik trennen, 30 Prozent wollen gleiche Rechte für Frauen und Männer und nur 20 Prozent die Sippenherrschaft zerstören. Diese unterschiedlichen Haltungen lassen keine Einigkeit zu. Dazu kommt, dass die Folgen von vierzig Jahren Polizeistaat eine lange Zeit der Heilung verlangen, um einander zu tolerieren und sich wieder vertrauen und verzeihen zu können.
Unerwähnt blieben in Ihrer Aufzählung die islamistischen Extremisten, die das Land in einen strikt religiösen Staat ummodeln wollen. Bietet die syrische Gesellschaft dafür überhaupt eine Grundlage?
Die Syrer bildeten eine offene, ethnisch und religiös bunte Gesellschaft. Fanatismus fand hier kaum Boden, aber durch die Herrschaft der Minderheit der Alawiten und ihre Verbundenheit mit Iran und seinem Handlanger, dem Hizbullah, sowie infolge der Verachtung der Sunniten durch die Ideologie der Baath-Partei fanden Saudiarabien und später auch Katar als finanzstarker sunnitischer Gegenpol und als Feinde Irans immer mehr Zustimmung in den sunnitischen Kreisen. Auf Dauer ist kein Volk gefeit gegen Verdummung, so auch die Syrer.
Wie spielte sich denn diese Entwicklung ab?
Die brutale Verhaftungswelle nach Ausbruch der Rebellion im März 2011 traf gezielt die liberalen, linken und nichtreligiösen Kräfte und schuf damit zunehmend Raum für die Islamisierung der Strasse; so wandelten sich auch die Parolen von der Betonung der Gleichheit aller Syrer und ihrer Entschlossenheit zum Kampf für Freiheit und Demokratie zum Ruf nach einem "Beistand Gottes" gegen die "gottlosen Alawiten". Syrien sah sich dabei erstmals in seiner Geschichte mit einer Präsenz gewaltbereiter militanter Islamisten konfrontiert. Deshalb haben viele Denker der liberalen und auch linken Opposition ihre zerstörerische Rolle zunächst unterschätzt. Sie rieben sich eher die Hände und dachten: Erst sollen die Jihadisten das Regime schwächen, und dann werden wir diese Kriminellen aus dem Land oder ins Gefängnis werfen.Hier muss aber auch einmal gesagt sein, dass man stets nur im Zusammenhang mit sunnitischen Extremisten wie an-Nusra und Isis von "Jihadisten" spricht, dabei aber mit stupider Gleichgültigkeit die Heere der schiitischen Jihadisten und Militärexperten übersieht, die aufseiten des Regimes kämpfen. Im Gegensatz zu den staatenlosen Verbrechern von Nusra und Isis kommen zwei der wichtigsten, aggressivsten Killer aus Libanon und dem Irak, also aus Ländern, deren heuchlerische Regierungen mit dem Westen verbunden sind und dennoch alle internationalen Prinzipien von Nichteinmischung in die Angelegenheit eines benachbarten Landes mit Füssen treten.
Wie sähe denn Ihre Vision von einem Syrien nach Asad aus?
Die Frage nach einer Vision für Syrien wird mir und vielen Oppositionellen in meinem Alter häufig gestellt. Bei uns kommen dann reale Bilder als Antwort zum Vorschein, nämlich aus der demokratischen Phase von 1954 bis 1958. Ich habe sie selbst erlebt. Wir hatten eine bürgerliche Demokratie mit mehreren Parteien, Pressefreiheit und offensiven Medien. Es gab keine politischen Gefangenen. Die Syrer liebten das Leben und kannten die Angst vor Verhaftung nicht. Politiker mussten ihr Handeln vor einem gewählten Parlament verantworten. Keine Person und keine Gruppe durfte Waffen tragen. Mein Vater war ein belesener, gläubiger katholischer Bäcker. Zu seinen besten Freunden gehörten ein Kommunist, ein Scheich, ein Bischof von Damaskus und mehrere Politiker, die ohne Leibwächter zu ihm in die Bäckerei kamen, um mit ihm zu reden. Der Staat funktionierte.Dürfte ich heute mitreden, dann würde ich etwa von der Verfassung verlangen, die Gewalt gegen Kinder mit den härtesten Strafen zu belegen, die Verhinderung von interkonfessioneller Liebe als Verbrechen strafbar zu machen und die Blutfehde nicht wie bisher milder, sondern härter zu bestrafen. Ich würde fordern, das Recht auf Arbeit, auf Kindergarten, auf absolute Freiheit von Kunst und Literatur fest zu verankern, den Binnenmarkt gegen die zerstörerischen Importe - vor allem von Billigware aus China - zu schützen, die rassistische und verachtende Haltung gegenüber anderen Völkern und Kulturen aus unseren Schulbüchern und Liedern zu entfernen - und noch mehr.
Sie sprechen es an: Die Syrer waren lange stolz auf ihre Geschichte der friedlichen Koexistenz verschiedener Religionsgemeinschaften. Ist dieses Erbe nun für immer verloren gegangen?
Nein. Wir sind in einer Krise, aber die Syrer sind ein uraltes und erfahrenes Volk. Auch 200 Jahre Kreuzzüge und 400 Jahre brutale osmanische Herrschaft konnten die Syrer nicht zu Hassern der Europäer oder Türken machen. Schon heute erheben sich Stimmen der syrischen oppositionellen Medien für eine bedingungslose Versöhnung aller Syrer. Dafür kämpfe ich auch.