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Hinterher weiß man immer mehr

Wir könnten so zufrieden sein. Wir sind es aber nicht. Weil wir von einer Welt träumen, die in allen Belangen besser ist, als das, was uns umgibt. Wir sind unzufriedene Menschen in einem gemachten Nest voller Privilegien, die wir dummerweise nicht durch unsere Smartphones wahrnehmen können. Nun wird manch einer genervt einwerfen, dass dieser Typ schon wieder auf die Generation der dauerhaften Besmartphonung schimpft. Aber einer muss es ja tun. Denn während man behutsam die Hand über diejenigen hält, die sooft für ihr realitätsfernes Verhalten gescholten werden, sind es exakt die vermeintlich geprügelten, die in diesem Moment erst einmal googeln müssen, für was sie eigentlich bei der letzten Wahl gestimmt haben. 


Das bezieht sich nicht nur auf den als Brexit beschlossenen EU-Austritt von Großbritannien, das sich im Nachhall des Referendums und vor allem auch in dessen Ausgang alles andere als „united" zeigt, sondern betrifft ebenso die politischen Entwicklungen der vergangenen Jahre hierzulande. Wir könnten so zufrieden und informiert sein, aber sind es nicht, weil wir das Potenzial unserer tragbaren Intelligenzbestien nicht nutzen. Es nicht zu nutzen wissen. Die Informationen, die Hintergründe, all das ist vorhanden und muss nur gefunden werden.

Wenn man es denn überhaupt finden will. 


Aus diversen anderen Zusammenhängen, die sich teilweise mit dem Diskurs „EU-Austritt" überlagern, ist der Trend, Informationen geflissentlich zu ignorieren bzw. nicht zuzulassen, schon bekannt. Nun hat es diese Entwicklung in die oberen Ränge geschafft und trägt Früchte. Es scheint fast so, als wäre ein Austausch von Argumenten nicht mehr erwünscht. Als wäre es Ziel einer Diskussion, ebendiese zu vermeiden, bis eine Gesprächspartei zermürbt das Handtuch wirft, weil es keinen Sinn mehr machte, dieses Feld weiter zu beackern. Das hat sich über Jahrzehnte entwickeln können, weil teilweise beide Parteien erfolgreich eine Politik des Schweigens praktizierten, um dem jeweils anderen keinen Angriffspunkt zu bieten oder dem jeweils anderen keine Bedeutung zukommen zu lassen. 


Beispielsweise haben sich Zoos lange Zeit nicht von manchen Kritikern beeindrucken lassen, wenn diese dafür bekannt waren, mit Halb- und Unwahrheiten zu argumentieren. Dieses Nichtbeeindruckenlassen äußerte sich durch stures Wegsehen und -hören. Und während man es nicht für notwendig erachtete, die laut pöbelnden, mit Halbwissen um sich werfenden Tierrechtler zu Wort kommen zu lassen, gelang es ebendiesen Kritikern, ihre teilweise falschen aber leicht zu verdauenden Fakten zu verbreiten. Dass man nicht miteinander sprach ist natürlich auch dem Umstand zuzuschreiben, dass man auf unterschiedlichen Ebenen diskutierte. Wer merkt, dass da jemand in einer anderen Dimension argumentiert, wird sich irgendwann darüber bewusst, dass weitere Gespräche kaum Gewinn versprechen.

Leicht verdaulich muss es sein, um verstanden zu werden. Es mag falsch sein, diese Entwicklung dem Internet und seiner pausenlosen Dauerbeschallung an Informationen zuzschreiben, denn vor meinetwegen 100 Jahren lief es kaum anders. Es kommt nicht darauf an, wer die detailliertesten Informationen und Hintergründe liefert. Das wäre wünschenswert, ist es aber in den Zeiten der Massenmedien keine Realität. Es sind nicht die langen und gut recherchierten Onlineartikel der großen Zeitungen, die tausend- ja millionenfach geteilt werden. Es sind Videos, Fotos, Bilder mit kurzen und prägnanten Aussagen, die uns beim Wischen über das Display kurz aus der Lethargie reißen. Von den Onlineartikeln, die zu lesen natürlich Zeit in Anspruch nimmt, bleibt vielleicht der Begleittext und der Titel hängen, was man an den Reaktionen ablesen kann. Wenn ein Kommentar einzig und allein auf die drei Zeilen über dem eigentlichen Post Bezug nimmt, spricht das Bände. 


Die Masse fordert Fakten, will sie aber nicht selbst aufwändig aus einem Text extrahieren. Stattdessen verlassen wir uns darauf, dass das jemand anderes für uns erledigt. Der Urheber einer Aussage, die sich in den sozialen Medien verbreitet, ist oft genug nicht von Interesse. Da zählt oft genug nur der Umstand, dass es jemand gewesen ist, der ja prinzipiell Ahnung von einer Sache haben muss. Wer derjenige genau ist, welchen Hintergrund er hat, spielt keine Rolle. Wie wenig Substanz das Rückgrat mancher Instanz besitzt, zeigt sich nun in den plumpen Reaktionen des EU-Austritts Großbritanniens. Und dass dieses Referendum der Gipfel jahrzehntewährender Beeinflussung teils einseitig berichtender Medien war, wird nun klarer denn je, obwohl die Strategie mancher Zeitungen nicht zu übersehen war.

Nur dazu hätte man sich in der Vergangenheit kritisch mit dem Publizierten auseinandersetzen müssen. Kritisch bedeutet in diesem Zusammenhang nicht, dass man die Artikel der Boulevardzeitung The Sun nicht als spinnerte Äußerungen einer um Leserzahlen bemühten Zeitung abtut. Das kennt man in Deutschland in Bezug auf die Bild, die ähnlich reißerisch titelt. Lächerlich durchschaubar. Und doch wird die Bild von knapp 2 Millionen Menschen gelesen und erreicht mit ihren Artikeln eine Reichweite von 12 Millionen Lesern. The Sun erreicht knapp 8 Millionen Leser bei einer Auflage von 1,7 Millionen. Dass dort ein gewaltiges Potenzial vorhanden ist, Meinungen zu lenken, sollte klar sein. Und so ist es kaum erstaunlich, dass man heute feststellt, dass der Eigentümer der Sun und Times Rupert Murdoch schon früh gegen die EU wetterte. Dass Boris Johnson 1988 - damals noch Korrespondent - aufgrund eines Artikels, in dem er ein erfundenes Zitat verwendete, gefeuert wurde. Dass er anschließend in seinen Artikeln für den Daily Telegraph die EU auf eine Art und Weise ins Lächerliche zog, die Schule machte. Gut geschrieben, aber kaum der Wahrheit entsprechend. 


Das weiß man nun. Es lag jahrzehntelang auf der Hand. Noch im Frühjahr dieses Jahres legte das Königshaus erfolgreich Beschwerde ein, weil der Queen in einer Boulevardzeitung die Befürwortung des Austritts in den Mund gelegt wurde. Es entsprach nicht der Wahrheit, aber das Kind war schon längst in den Brunnen gefallen. 


Aktuell bewegt sich eine neue Welle des Nationalismus durch Europa. Hierzulande schenkt man der AfD die Stimme. Nicht einmal das Vertrauen. 70% der AfD-Wähler sind der Meinung, dass die AfD nicht zum Bilden einer Regierung taugt. Doch das interessiert viele nicht, weil vor allem eines kommuniziert wird: Die aktuelle Politik ist schlecht und wir ändern das! Allgemeiner Jubel, doch was danach kommt, ist ungewiss. Denn hinter den gefeierten Revoluzern tut sich ein gewaltiger Mangel an Kompetenz auf, was sich daran ablesen lässt, dass sich viele Ortsverbände schnell auflösen, weil die gemeinsame Grundlage fehlt. Zuletzt in Baden-Württemberg, wo manch einer zu radikal auftrete. Das Programm der Partei formuliert Ziele und Wege dorthin, die aber nicht funktionieren können. Auch das liegt auf der Hand, wird aber wie so vieles ignoriert. 


Auch nach dem EU-Austritt Großbritanniens existieren keine Pläne für die Zukunft. Murdoch spricht von „großartigen Möglichkeiten", die sich aber vor allem auf Übernahmebestrebungen beziehen. Nigel Farage gab seinen Rücktritt bekannt und verkündete im selben Atemzug, dass er nun anderen Staaten, die austreten wollen, hilfreich zur Seite stehen wird. Das verstärkt den Eindruck, dass es ihm beim Brexit nicht um eine erfolgreiche Zukunft Großbritanniens ging. Wäre das sein Ziel gewesen, hätte er an einer Neugestaltung des Landes außerhalb der EU teilgenommen. 


Aber es gibt keine Pläne. Es wäre ein Leichtes gewesen, diese Defizite zu entlarven, hätte man sich mit den Populisten an einen Tisch begeben. Die Defizite waren nachlesbar, die Informationen verfügbar, die Hintergründe auf unser aller Smartphone zu finden. Wir nutzen es nicht. Stattdessen nutzen andere unsere Trägheit, lange Texte zugunsten kurzer, einfacher Slogans einfach wegzuwischen. Unser Interesse reicht bis zum Titel eines Artikels, bis zum Text einem Bild, bis zum Foto, das eine vermeintlich konkrete Aussage trifft. Das könne ja nicht wahr sein, was in diesem Land passiert, hört man Menschen reden. Gegen dieses und jenes müsse doch etwas getan werden, plärrt man am Stammtisch. Dort, wo nun die vielleicht prägendsten Entscheidungen der letzten Jahrzehnte getroffen wurden. Aufgrund zu oberflächlich recherchierter Zusammenhänge. 


Auf der anderen Seite steht man fassungslos dieser nicht für möglich gehaltenen Entwicklung gegenüber. Der Populismus soll wieder einmal die Politik in Europa bestimmen und das Peinliche daran ist, dass es abzusehen war. Peinlich für diejenigen, die die krakeelende Minderheit ignorierten, weil diese nunmal eine Minderheit sei. Man ließ sie gewähren und damit hintergründig Zuspruch entstehen. Zoos seien schlecht, die deutsche Regierung sei schwach, dieses Land sei kaputt, die EU sei schlecht für das einzelne Land. Was die EU und den Austritt Großbritanniens betrifft, waren die treibenden Kräfte seit 30 Jahren aktiv. Und das nicht einmal versteckt. Man hätte sie nur wahrnehmen müssen. Das verändert für uns in Deutschland zunächst nichts. Vielleicht den Umgang mit als wirr bezeichneten Protestlern. Das könnte man daraus lernen. 


Die Zusammenfassung dieser Entwicklungen lieferte vor einigen Tagen der Kommentator eines Vorrundenspiels der laufenden Fußball-Europameisterschaft, wenn auch in anderem Zusammenhang: 


„Auch hanebüchen, dass ein Ordner die Fackel in die Hand nimmt. Und jetzt wundert er sich, dass ihm die Hände brennen."

Warum immer erst nachher?


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