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"Das ist ein Schwellenerlebnis"

Wenn die Wehen einsetzen, beginnt Sabine Pischinger zu stricken. Winzige bunte Babysöckchen für ein Wesen, das sich gerade seinen Weg nach draußen bahnt. Pischinger arbeitet seit mehr als 30 Jahren als Hebamme in Höhenkirchen-Siegertsbrunn im südöstlichen Landkreis München. Natürlich muss niemand die Geburt allein durchstehen - aber das Stricken beruhige die Frauen, bis es richtig losgehe, meint die 62-Jährige. Laut eigenen Angaben bietet sie als einzige Hebamme in der Umgebung Hausgeburten an. "Nur Frauen, die bei der Geburt ihre Arbeit machen können, sollten ihr Kind zuhause bekommen", sagt Pischinger. "Ich bin da, um zu begleiten und zu beobachten. Alles andere ist ein ganz normaler, natürlicher Vorgang, und der geht seinen Weg."

So weit, so pragmatisch. Als Ausgleich zu Geburten, die 16 Stunden und länger dauern können, malt Pischinger Aquarellbilder. Einige hängen in ihrem Wohnzimmer und zeigen die Verkündigung - den Moment, als ein Engel Maria mitteilt, dass sie schwanger ist. Der Raum wirkt wie ein Ruhepol, der ihren dichten Alltag entschleunigt. Obwohl noch drei weitere Hebammen in Höhenkirchen-Siegertsbrunn arbeiten, könnten diese mit den vielen Geburten kaum Schritt halten, erzählt Pischinger.

Eigentlich bräuchte es mehr Hebammen, um alle Frauen angemessen versorgen zu können. Einer Studie des bayerischen Gesundheitsministeriums zur Hebammenversorgung zufolge gab es im Freistaat im Mai 2017 rund 2700 freiberufliche Hebammen. Als Angestellte waren 2016 in Krankenhäusern 731 Hebammen tätig. Die Gesamtzahl ist jedoch schwierig zu ermitteln, da viele Geburtshelferinnen sowohl in Krankenhäusern als auch selbständig arbeiten. Doch allein zwischen 2011 und 2016 erhöhte sich die Geburtenzahl in Bayern um 21,3 Prozent.

Die Studie stellte gravierende Versorgungsengpässe bei der Betreuung von Schwangeren fest - insbesondere in Städten. Weil die Nachfrage an Hebammen so groß ist, melden sich viele schon bei Pischinger an, wenn sie den positiven Schwangerschaftstest in der Hand halten. Und nach der Geburt hört die Arbeit nicht auf: Pischinger kümmert sich dann noch mindestens sechs Wochen um die Frauen, bis deren Wochenbett vorbei ist. Gerade Mütter, die ihr erstes Kind bekommen haben, sind oft verunsichert und dankbar für Ratschläge.

Ihre Frauen besucht die 62-Jährige überwiegend daheim, um sie zu betreuen. Hausbesuch bei Philip und Cosima im Nachbarort: Die beiden fragen sich, ob es im Schlafzimmer zu kalt für ihr Baby ist. Übermüdung und Zärtlichkeit spiegeln sich in den Gesichtern. Vier Tage zuvor wurde ihre Tochter Marie geboren. Pischinger gibt Tipps, hört sich die Sorgen des jungen Paars an und erklärt, wie das kleine Mädchen am besten vom Wickeltisch gehoben wird. Dann untersucht sie, ob sich Cosimas Gebärmutter normal zurückentwickelt. All das gehört zum Nachsorge-Programm der Hebamme.

Am liebsten mag Pischinger aber die Geburten selbst. Noch immer sind sie für die Hebamme nicht zur Alltagsroutine geworden. "Es hat etwas Entrücktes, das ist ein Schwellenerlebnis", erzählt sie. "Und bei diesem Vorgang dabei zu sein, dass ist ähnlich, wie jemanden beim Sterben zu begleiten." Es sei transzendent, findet sie. Pischinger weiß, wovon sie spricht, als eine von wenigen Hebammen bietet sie Trauerbegleitung bei Fehl- und Totgeburten an. Was sie während der Geburt erlebt, entschädigt sie immer wieder für die stressigen Seiten ihres Jobs.

Von der 37. Schwangerschaftswoche an ist Pischinger in Rufbereitschaft. Das bedeutet: kein Kino, Handy am Bett und immer im Umkreis der Frau bleiben. Pro Jahr kommen bei ihr zehn bis zwanzig Geburten zusammen. Bei einigen weiteren ist sie zudem als begleitende Hebamme dabei. Wie hoch ihr Einkommen ist, möchte Pischinger nicht erzählen - es sei so wenig, dass sie kaum davon leben könnte, würde sie nicht im Haus ihrer Eltern wohnen. Und sie sei gut organisiert, sagt Pischinger. Ihr Mann macht die Büroarbeit, damit sie in Vollzeit arbeiten kann.

Für selbständige Hebammen ist die Situation oftmals noch schwieriger als für Angestellte in Krankenhäusern. Um die hohe Versicherungssumme von knapp 7000 Euro bezahlen zu können, müssten viele erst einmal einen Kredit aufnehmen, erklärt sie. Keine attraktiven Aussichten - zumal die Hebammen in ihrem Job eine riesige Verantwortung tragen.

Die Auswirkungen des knappen Personals bekommen auch die Kliniken zu spüren. "Uns würde es helfen, wenn zum Beispiel verbindliche Personaluntergrenzen in Kliniken eingeführt würden", sagt Susanne Weyherter vom Bayerischen Hebammen Landesverband. "Aber auch die Klinikbetreiber sind gefragt und sollten innovative und fortschrittliche Konzepte gegen den Mangel entwerfen. Zudem bräuchte es mehr finanzielle Anreize, neue Schichtmodelle oder Hilfen bei der Wohnungssuche."

Einen Aktionsplan in Sachen Hebammenversorgung hat sich Bayerns Gesundheitsministerin Melanie Huml (CSU) angesichts der Lage in diesem Jahr vorgenommen. Mögliche Maßnahmen nannte sie nach einem Spitzentreffen mit Institutionen und Verbänden am Montag in Nürnberg noch nicht. Im Laufe des Jahres sind drei weitere Treffen geplant. "Die bayerische Staatsregierung wird sich auch künftig für Hebammen einsetzen", so Huml. Immerhin wird selbständigen Hebammen in Bayern, die sich mindestens um vier Geburten im Jahr kümmern, seit 2018 ein Bonus von 1000 Euro jährlich gewährt. Das sei ein guter Anfang, aber die Situation bleibe schwierig, sagt Pischinger. Wenn sich nichts ändere, gebe es bald vielleicht keine Hausgeburten mehr. Dennoch würde sich die Hebamme immer wieder für ihren Beruf entscheiden.

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