Der Durchschnittsungar war ebenfalls unzufrieden mit dem kommunistischen Regime. Allgemein haben die Ungarn die Ostdeutschen verstanden, und sie wollten ihnen so gut wie möglich helfen. Das geschah auch. Die meisten DDR-Staatsbürger hofften, dass sie über die Tschechoslowakei und Ungarn in den Westen gelangen könnten. Sie haben damals in Jugendferienlagern und in Kirchen Unterkunft bekommen. Viele von ihnen kamen mit dem Auto. In der Gasse vor dem Nonnenkloster standen in langen Reihen die Autos der Ostdeutschen. Sie hatten große Hoffnungen, weiterfahren zu können.
Sie wurden Seelsorger der DDR-Flüchtlinge. Wie kam es dazu?Meine erste Frau, die bereits verstorben ist, und ich sprachen fließend deutsch. Wir beide haben die Bibelstunden und den deutschsprachigen Gottesdienst in der evangelisch lutherischen Burgkirche in Buda abgehalten und standen daher in Kontakt mit dem Ökumenischen Hilfsdienst. Im Spätsommer 1989 erhielt ich einen Anruf vom evangelischen lutherischen Leiter des ökumenischen diakonischen Dienstes. Er hat mich gebeten, zu der Kirche der Evangelischen Fräulein (Congregatio Jesu) zu fahren. In der Kirche waren viele Flüchtlinge aus Ostdeutschland untergebracht. Vom Ökumenischen Hilfsdienst hatte ich die Anordnung bekommen, mich um die Seelsorge der dortigen Gläubigen zu kümmern. Meine Frau und ich fuhren mit der Straßenbahn zur Kirche und versuchten mit den DDR-Flüchtlingen dort in Kontakt zu treten. Ich bastelte mir einen Anstecker mit dem Symbol der Ökumene als Erkennungsmerkmal für die Flüchtlinge. Ich habe mich vorgestellt, sprach mit ihnen und lud sie zu meiner Andacht am kommenden Sonntag in die Kirche ein. Anschließend fuhr uns ein ostdeutsches Ehepaar wieder nach Hause.
Wie viele Flüchtlinge haben Sie betreut?Ich kann keine genaue Zahl angeben. Ich erinnere mich, dass an der ersten Sonntagspredigt zwischen zehn und 20 Leute teilgenommen haben. Bei der zweiten Sonntagsandacht kam nur ein junger Mann. Ich habe mich aber auch nur zwei Wochen um die Flüchtlinge gekümmert, weil sie anschließend nach Österreich weiterfahren konnten.
Sie haben sich um die DDR-Flüchtlinge gekümmert. Wie genau haben sie ihnen geholfen?Ich habe mich den Flüchtlingen vorgestellt, mit ihnen gesprochen, gebetet und zwei Mal die Sonntagsandacht gehalten. Ich habe meine Aufgabe darin gesehen, das Wort Gottes zu predigen, um ihnen dadurch Trost und Mut zu geben. Diejenigen, die diese Hilfe angenommen haben, kamen zu meiner Predigt. Ich erinnere mich nicht mehr genau, aber ich habe über die Botschaft der Bibel, unsere Erlösung, das Werk Jesu Christi, die daraus folgende Dankbarkeit und Menschenliebe gepredigt. Ich hatte nicht die Möglichkeit, ein intensives Gespräch mit ihnen zu führen. Generell wollte ich auch nichts über ihre Umstände wissen, warum sie nach Ungarn gekommen sind. Ich wusste oder ahnte es. Auch sie haben darüber aus Angst nicht gesprochen. Ungarn war immerhin noch kommunistisch. Ich habe es nicht für meine Aufgabe gehalten, mich mit politischen Themen zu beschäftigen. Ich dachte und denke bis heute, dass persönlich engagierte Christen die praktischen Folgen erkennen und ihnen folgen konnten.
Hatten Sie das Gefühl, mit ihrer Arbeit erfolgreich gewesen zu sein?Das Gefühl hatte ich nicht. Ich hatte das Gefühl, damit weniger Erfolg zu haben. Ich habe diesen Eindruck, weil zu meiner Predigt am zweiten Sonntag nur ein einziger junger Mann kam. Am Sonntag davor waren es zehn bis 20 Seelen gewesen. Der Nazismus, der Krieg und die Auswirkungen des kommunistischen Regimes lenkten ihre Aufmerksamkeit eher auf handfeste Tatsachen, auf ihre persönliche Freiheit.
Welche Hoffnungen und Ängste hatten die DDR-Bürger?Ich hatte den Eindruck, dass sie froh waren, aus der DDR geflohen zu sein. Für sie war eine Flucht aus der DDR wichtig. Aber sie waren auch ängstlich. Die Flüchtlinge hofften, in die freie Welt zu gelangen. Der größte Wunsch für sie war es, nach Westdeutschland fahren zu können. Das sind nur meine Eindrücke. Genaueres kann ich nicht sagen, weil wir nicht über ihre Umstände sprachen. Ich habe nichts Neues von den Flüchtlingen erfahren. Es war keine Sensation. Ich wusste nur, dass sie sich geheim organisiert hatten und so nach Budapest gekommen sind. Aber über solche geheimen politischen Sachen pflegt man nicht zu sprechen. Schließlich waren wir in Ungarn, einem Land unter kommunistischer Führung. Da war es nicht gerade ratsam, ein Gespräch über politische Angelegenheiten zu führen.
Haben sie noch Kontakt zu jemandem aus dieser Zeit?Nein. Es ist kein bleibender Kontakt entstanden, da ich mit den Flüchtlingen nur über einen sehr kurzen Zeitraum, ungefähr zwei Wochen, in Kontakt stand.
Vor dem Haus des Terrors standen mehrere Monate Tafeln mit Informationen über die Zeit des Kommunismus und die Wende. Menschen, die die Wendezeit beeinflusst haben, werden auch vorgestellt. Eine Tafel hatte sich Ihnen gewidmet, als Seelsorger der DDR-Flüchtlinge. Was für ein Gefühl ist das für Sie?Ich weiß davon gar nichts. Aber ich bin bereits einmal im Haus des Terrors gewesen. Da werde ich höher geschätzt, als es in der Realität war. Was wir aber taten, das war das Mögliche.
Das Interview führte Madlen Schäfer Mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Botschaft Budapest