1 subscription and 0 subscribers
Article

Der Seelsorger der DDR-Flüchtlinge

Deutschland schaut in diesem Jahr mit besonderer Dankbarkeit nach Ungarn. Denn vor 25 Jahren halfen die Ungarn tausenden Flüchtlingen aus Ostdeutschland. Sie wollten über Ungarn und Österreich in die Bundesrepublik Deutschland fliehen. Viele Menschen halfen den Flüchtlingen auf ganz unterschiedliche Weise. Einer davon ist der heute 84-jährige Árpád Zsigmondy. Er übernahm die Seelsorge für einige Flüchtlinge. Doch Zsigmondy selbst empfindet seine Hilfe als nichts Besonderes. 25 Jahre ist es her, als tausende DDR-Bürger nach Ungarn kamen, um über die österreichische Grenze nach West­deutschland zu fliehen. Wie war damals die Situation in Budapest?

Der Durchschnittsungar war ebenfalls unzufrieden mit dem kommunistischen Regime. Allgemein haben die Ungarn die Ostdeutschen verstanden, und sie wollten ihnen so gut wie möglich helfen. Das ge­schah auch. Die meisten DDR-Staatsbür­ger hofften, dass sie über die Tschechoslo­wakei und Ungarn in den Westen gelangen könnten. Sie haben damals in Jugendferi­enlagern und in Kirchen Unterkunft be­kommen. Viele von ihnen kamen mit dem Auto. In der Gasse vor dem Nonnenkloster standen in langen Reihen die Autos der Ostdeutschen. Sie hatten große Hoffnun­gen, weiterfahren zu können.

Sie wurden Seelsorger der DDR-Flüchtlinge. Wie kam es dazu?

Meine erste Frau, die bereits verstor­ben ist, und ich sprachen fließend deutsch. Wir beide haben die Bibelstunden und den deutschsprachigen Gottesdienst in der evangelisch lutherischen Burgkirche in Buda abgehalten und standen daher in Kontakt mit dem Ökumenischen Hilfs­dienst. Im Spätsommer 1989 erhielt ich ei­nen Anruf vom evangelischen lutherischen Leiter des ökumenischen diakonischen Dienstes. Er hat mich gebeten, zu der Kirche der Evangelischen Fräulein (Cong­regatio Jesu) zu fahren. In der Kirche wa­ren viele Flüchtlinge aus Ostdeutschland untergebracht. Vom Ökumenischen Hilfs­dienst hatte ich die Anordnung bekommen, mich um die Seelsorge der dortigen Gläubi­gen zu kümmern. Meine Frau und ich fuh­ren mit der Straßenbahn zur Kirche und versuchten mit den DDR-Flüchtlingen dort in Kontakt zu treten. Ich bastelte mir einen Anstecker mit dem Symbol der Ökumene als Erkennungsmerkmal für die Flüchtlin­ge. Ich habe mich vorgestellt, sprach mit ihnen und lud sie zu meiner Andacht am kommenden Sonntag in die Kirche ein. An­schließend fuhr uns ein ostdeutsches Ehe­paar wieder nach Hause.

Wie viele Flüchtlinge haben Sie betreut?

Ich kann keine genaue Zahl angeben. Ich erinnere mich, dass an der ersten Sonntagspredigt zwischen zehn und 20 Leute teilgenommen haben. Bei der zwei­ten Sonntagsandacht kam nur ein junger Mann. Ich habe mich aber auch nur zwei Wochen um die Flüchtlinge gekümmert, weil sie anschließend nach Österreich wei­terfahren konnten.

Sie haben sich um die DDR-Flüchtlin­ge gekümmert. Wie genau haben sie ihnen geholfen?

Ich habe mich den Flüchtlingen vorge­stellt, mit ihnen gesprochen, gebetet und zwei Mal die Sonntagsandacht gehalten. Ich habe meine Aufgabe darin gesehen, das Wort Gottes zu predigen, um ihnen da­durch Trost und Mut zu geben. Diejenigen, die diese Hilfe angenommen haben, ka­men zu meiner Predigt. Ich erinnere mich nicht mehr genau, aber ich habe über die Botschaft der Bibel, unsere Erlösung, das Werk Jesu Christi, die daraus folgende Dankbarkeit und Menschenliebe gepre­digt. Ich hatte nicht die Möglichkeit, ein intensives Gespräch mit ihnen zu führen. Generell wollte ich auch nichts über ihre Umstände wissen, warum sie nach Ungarn gekommen sind. Ich wusste oder ahnte es. Auch sie haben darüber aus Angst nicht gesprochen. Ungarn war immerhin noch kommunistisch. Ich habe es nicht für mei­ne Aufgabe gehalten, mich mit politischen Themen zu beschäftigen. Ich dachte und denke bis heute, dass persönlich engagierte Christen die praktischen Folgen erkennen und ihnen folgen konnten.

Hatten Sie das Gefühl, mit ihrer Ar­beit erfolgreich gewesen zu sein?

Das Gefühl hatte ich nicht. Ich hatte das Gefühl, damit weniger Erfolg zu haben. Ich habe diesen Eindruck, weil zu meiner Predigt am zweiten Sonntag nur ein einzi­ger junger Mann kam. Am Sonntag davor waren es zehn bis 20 Seelen gewesen. Der Nazismus, der Krieg und die Auswirkun­gen des kommunistischen Regimes lenkten ihre Aufmerksamkeit eher auf handfeste Tatsachen, auf ihre persönliche Freiheit.

Welche Hoffnungen und Ängste hatten die DDR-Bürger?

Ich hatte den Eindruck, dass sie froh waren, aus der DDR geflohen zu sein. Für sie war eine Flucht aus der DDR wichtig. Aber sie waren auch ängstlich. Die Flüchtlinge hofften, in die freie Welt zu gelangen. Der größte Wunsch für sie war es, nach Westdeutschland fahren zu können. Das sind nur meine Eindrücke. Genaueres kann ich nicht sagen, weil wir nicht über ihre Umstände sprachen. Ich habe nichts Neues von den Flücht­lingen erfahren. Es war keine Sensation. Ich wusste nur, dass sie sich geheim or­ganisiert hatten und so nach Budapest gekommen sind. Aber über solche gehei­men politischen Sachen pflegt man nicht zu sprechen. Schließlich waren wir in Ungarn, einem Land unter kommunisti­scher Führung. Da war es nicht gerade ratsam, ein Gespräch über politische An­gelegenheiten zu führen.

Haben sie noch Kontakt zu jemandem aus dieser Zeit?

Nein. Es ist kein bleibender Kontakt ent­standen, da ich mit den Flüchtlingen nur über einen sehr kurzen Zeitraum, unge­fähr zwei Wochen, in Kontakt stand.

Vor dem Haus des Terrors stan­den mehrere Monate Tafeln mit Infor­mationen über die Zeit des Kommunis­mus und die Wende. Menschen, die die Wendezeit beeinflusst haben, werden auch vorgestellt. Eine Tafel hatte sich Ihnen gewidmet, als Seelsorger der DDR-Flüchtlinge. Was für ein Gefühl ist das für Sie?

Ich weiß davon gar nichts. Aber ich bin bereits einmal im Haus des Terrors gewe­sen. Da werde ich höher geschätzt, als es in der Realität war. Was wir aber taten, das war das Mögliche.

Das Interview führte Madlen Schäfer Mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Botschaft Budapest
Original