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Von Ganzem Herzen

Luci und Leon haben ­Kinder aus Silikon. Die Geschichte einer Liebe, die anders, aber echt ist.


Als er Luci zum ersten Mal sieht, stutzt Leon. Ist das möglich? Er sucht im Winter 2017 eine Frau per Dating-App. Als Alter hat Luci 17 angegeben, auf ihrem Profilbild trägt sie die langen roten Haare offen – und auf ihrem Arm ein Baby. Hat sie echt schon ein Kind?, fragt er sich. Dann liest er: »Heii. Ich suche was Festes, allerdings ist das nicht leicht, da mein Hobby nicht viele verstehen und akzeptieren … Also, ich habe eine Puppe, die wie ein echtes Baby aussieht … du möchtest mehr wissen und mich kennenlernen? Schreib mir«. Doch Leon traut sich nicht.


Luci schon. »Hey«, schreibt sie ihm: »Wie geht’s?« Es ist der Anfang einer außergewöhnlichen Liebesgeschichte. Leon Giesen, 21 Jahre alt, ein Soziologie-Student, der Klassik-Schallplatten sammelt, im Orchester Horn spielt, sich in Büchern verliert und Ordnung liebt. Luci Bieber, vier Jahre jünger, Laborassistentin, gepiercte Lippe, hört mit offenem Autofenster Gangsterrap und fühlt sich im Chaos zu Hause. Er ein Außenseiter, sie eine früh erwachsene Frau, die mit lebensechten Puppen spielt.

Januar 2021 in Zornheim, einem 4000-Einwohner-Ort in Rheinland-Pfalz. Luci und Leon sitzen in ihrer Drei-Zimmer-Wohnung auf der Couch, zwischen ihnen ein Baby. Zu ihren Füßen liegen Kuscheltiere verstreut. Schallplatten und Harry Potter-Bücher stapeln sich im Fernsehregal, an der Wand hängt ein großer Bilderrahmen: »FAMILY« steht dort in dicken Holzbuchstaben. Um den Schriftzug herum sind Fotos von nackten, faltigen Babyfüßen zu sehen, von Leon und Luci mit Kinderwagen im Urlaub, von einem Baby mit Minnie-Maus-Mütze. Einem Kind, das nie weint, nie wächst. Dieses Baby, das zwischen Luci und Leon auf der Couch sitzt, ist ein Kind aus Plastik. Sie nennen es Hazel Grace.


An einem Dezembertag 2017 haben Luci und Leon ihr erstes Date, zu Hause bei ihren Eltern. Noch viel schöner als auf dem Foto, geht es ihm durch den Kopf, als er sie an den Türrahmen gelehnt sieht: Das passt perfekt, denkt er. Luci geht es umgekehrt genauso. Mit jeder kleinen Berührung noch mehr. Ein Gefühl eint sie: Ihre Blicke und Worte, sie verurteilen nicht. Zum Abschied küssen sie sich. Luci fühlt sich leicht, unbeschwert. Durch ihren Körper fährt ein Kribbeln. Sie denkt: Der gehört zu mir.

Vor Luci hatte Leon nie eine Beziehung. Zu groß war seine Angst, dass Frauen ihn seltsam finden würden: seine Besserwisserei, seine hochgestochene Art zu reden, seine Unerfahrenheit in der Liebe. Als er ein Kind war, wurde bei Leon ADHS festgestellt. Ihm wurden Ritalin und allerlei andere Psychopharmaka verschrieben, auch starke. Mit elf Jahren benutzte er Worte wie »symptomatisch« und »normiert«. Seine Klassenkameraden lachten ihn aus und wollten im Zug nicht neben ihm sitzen.


Luci hingegen hatte, seitdem sie zwölf Jahre alt war, durchgehend Beziehungen. Vier Jahre lang war sie mit einem Mädchen aus ihrer Klasse zusammen. Mit Jungs, sagt sie heute, machte sie keine guten Erfahrungen. Ihre Eltern arbeiteten viel, ihre zwei Geschwister zogen früh aus. Oft fühlte sie sich allein. Nutzlos. Ungeliebt. Da war eine Lücke, die durch niemanden zu füllen war, auch durch ihre Beziehungen nicht. Dann stieß sie in einem Chatforum auf »Reborns« – täuschend echt aussehende Babys aus Silikon und Plastik. Sie beschloss, Mutter zu werden. Mit 14 bestellte sie ihr erstes Kind im Internet. 200 Euro, ihr gesamtes angespartes Taschengeld. Einige Jahre später überzeugte ihre Mutter sie, das Baby wegzugeben. Luci sollte sich auf ihre Ausbildung konzentrieren und ihre Zeit nicht mit Puppenspielen vergeuden.




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