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Interview

Jeder Mensch ist ein Original

Entspannt sitzt Friedhelm Weber in einem Sessel am Kamin und genießt die Ruhe. Das war nicht immer so. Denn in seinem Beruf als Arzt hatte er täglich wichtige Entscheidungen zu treffen, manchmal innerhalb von Sekunden. Dabei ging es um Leben und Tod. Nostalgisch schwelgt Friedhelm in den alten Zeiten, während er von früher erzählt. Man merkt, dass er für seinen Beruf gebrannt hat, dieser nahm einen großen Teil seines Lebens ein. Sein Vater war bereits Oberarzt in einem Krankenhaus in der Chirurgie und hatte später eine Unfallpraxis. Schon bald wusste Friedhelm, dass er ebenfalls in die Medizin gehen wollte. Sein Studium absolvierte er an der Medizinischen Hochschule in Hannover, die damals neu gegründet worden war. Fast 40 Jahre war Friedhelm Weber an der  Rems-Murr-Klinik in Schorndorf tätig, davon 10 Jahre als leitender Oberarzt der Inneren Medizin und 23 Jahre als Chefarzt. Er arbeitete in der Abteilung der Inneren Medizin. Sein Arbeitsschwerpunkt war dort die Kardiologie, also alles was mit Herz-Kreislauf- und Lungenerkrankungen zu tun hat. Ende Februar 2015 ging er schließlich in den Ruhestand. Im Interview berichtet er von seinem Umgang mit den Patienten, seiner Innovation bei der Herzschrittmachertherapie und wie er seinen Glauben im Arbeitsalltag gelebt hat.

Was war dir im Umgang mit deinen Patienten besonders wichtig?

Das Gespräch, ganz klar. Meine Besuche haben immer länger gedauert. In meiner Sprechstunde habe ich bewusst nur halbstündige Termine vergeben, nie kürzer. Das war mir extrem wichtig. Denn ich wollte Zeit haben mit dem Patienten. Es war der Luxus, den ich mir als Chefarzt leisten konnte. In Arztpraxen ist das weniger möglich, die haben immer den Zeitdruck  durch die Patienten im Wartezimmer.

Hast du einen Patienten noch besonders in Erinnerung, zu dem du ein persönlicheres Verhältnis aufbauen konntest?

Einer meiner ersten Schrittmacherpatienten war ein 81-jähriger Herr, der immer wieder Herzstillstände hatte. Zweimal im Jahr kam er zur Kontrollmessung seines Herzschrittmachers. Bei einer Untersuchung fragte ich ihn, wie es im gehe. Er grinste verschmitzt und zog ein Foto aus seiner Tasche. Darauf sah man ihn mit Frack, Zylinder und weißen Handschuhen vor einem glänzenden, restaurierten Oldtimer stehen. Neben ihm war ein Brautpaar zu sehen. Es war sein Hobby, frisch verheiratete Paare in diesem Auto umherzufahren. Das machte er umsonst, einfach zum Spaß. Er sagte: „Das kann ich jetzt wieder machen.“ Darüber freute ich mich sehr.

Als Arzt hat man einen langen Arbeitstag. Wie bist du mit dieser Herausforderung umgegangen?

Ich hatte 22 Jahre lang zwischen 60 und 70 Wochenstunden Arbeitszeit, das muss man erst einmal verdauen. Es gab für mich zwei Schlüsselerlebnisse. Beide trugen sich zu, als ich im Robert-Bosch-Krankenhaus in Stuttgart tätig war. Meine älteste Tochter Sabina war damals ein kleines Mädchen im Kindergartenalter. Eines Nachmittags kam ich unerwartet früher nach Hause, ich konnte frei machen. Ich kam gleichzeitig mit einer Freundin meiner Frau nach Hause, die zum Kaffeetrinken eingeladen war. Sabina sah uns kommen, rannte zu ihrer Mutter zurück und sagte: „Mami, wir kriegen zwei Besüche.“ Ich war also nur der Besuch zu Hause. Das hat mir schon etwas ausgemacht. Das zweite Erlebnis war mit meiner jüngsten Tochter Eva. Meine Frau rief mich im Krankenhaus an und teilte mir mit, dass Eva inzwischen läuft. Das hatte ich nicht mitbekommen, weil ich sie die ganze Woche nur schlafend gesehen habe. Wenn ich am Wochenende Dienst hatte, konnte ich sie 14 Tage am Stück nicht sehen. 

Was waren für dich besonders große Stressfaktoren bei der Arbeit?

Die Arbeitsbedingungen sind mit der Zeit immer unmenschlicher geworden. Es gibt immer weniger Fachkräfte, die umso mehr arbeiten müssen. Als ich im Jahr 1991 die Krankenhausabteilung der Inneren Medizin übernommen habe, behandelten wir jährlich 2800 Patienten stationär. Damals hatten wir 140 Betten in der Abteilung. Am Ende waren es nur noch 131 Betten, dafür haben wir jährlich 5800 Patienten behandelt. Diese hohe Schlagzahl war definitiv ein Stressfaktor für mich.

Wieso hast du dich im Bereich der Inneren Medizin spezialisiert?

Mein Vater war Chirurg und er hätte sich sicherlich gewünscht, dass ich auch Unfallchirurgie mache. Aber ich habe während des Studiums schnell gemerkt, dass mein Interesse eher in der Inneren Medizin liegt. Die Arbeit besteht hier weniger im Machen sondern eher im Knobeln und Denken. Man muss tatsächlich ein Rätsel lösen, wenn man sich überlegt: „Woher kommen die Beschwerden, die dieser Mensch hat? Wie kann ich die Diagnose behandeln?“ Das ist das Reizvolle an dem Fach.

Die Klinik in Schorndorf war eine der Ersten, die ein neues Schlaganfallkonzept und die Schrittmachertherapie entwickelt hat. Was war das Besondere an der Therapie?

Das sogenannte Bobath-Konzept wurde von einem Ehepaar aus London nach Deutschland gebracht. Das Besondere daran ist, dass verschiedene Berufsgruppen dabei interdisziplinär zusammen arbeiten. Als Arzt bist du dann kein Halbgott in Weiß mehr, sondern einer unter vielen. Die Arbeit von Logopäden, Physio- und Ergotherapeuten, Ärzten und Pflegern wird dabei  genau aufeinander abgestimmt.  Zusammen mit den Kliniken in Welzheim und Ruit haben wir das Konzept entwickelt. Davor gab es nichts auf dem Gebiet. Eine Schwierigkeit war die Finanzierung. Es gab keine Fördermittel dafür, weil das Gebiet völlig unbekannt war. Aber wir hatten einen aktiven Förderkreis am Krankenhaus in Schorndorf, der uns unterstützt hat. Dieses Gebiet hat mir viel Spaß gemacht, weil ich gesehen habe, was man Unglaubliches für den Patienten erreichen kann. Ich stand staunend dabei, wenn die Ergotherapeutin den Patienten behandelt hat. Es war erfreulich, welche Ergebnisse wir damit erzielen konnten.

Gab es bei deiner Arbeit eine Situation oder Entscheidung, wo du in einen Gewissenskonflikt kamst?

Ja, die gab es. Ich habe erlebt, dass ein Mensch, der im Krankenhaus war, im Grunde nicht an den Diagnosen litt, die man bei ihm feststellte. Stattdessen waren Menschen in seinem Umfeld daran beteiligt, oftmals sogar ursächlich. In der Situation hätte ich eigentlich sagen müssen: „Trenne dich von diesem Menschen.“ Aber wenn das der Ehemann war oder die Eltern, sollte ich dann einen Keil in die Familie treiben? Das ist eine schwierige Entscheidung.

Wie stehst du zum Thema Sterbehilfe? Gibt es Methoden, die du explizit ausschließt?

Die Grundlage ist für mich ganz klar das Menschenbild, das die Bibel vermittelt: Jeder Mensch ist ein Original des Schöpfers und Gegenstand der Liebe Gottes. Das bedeutet, dass jedes Menschenleben seinen Wert in sich selber hat, nicht nur weil jemand für eine andere Person wertvoll ist. Deshalb will ich Menschen davor schützen, dass ein Anderer über deren Leben verfügt. Ich habe einen Fall erlebt mit einer Frau, die fast 80 Jahre alt war. Sie war schwer krank und wurde nur durch Beatmung und künstliche Ernährung am Leben gehalten. Sie hatte einen Sohn, der gelegentlich in seinem großen BMW angerauscht kam. Er ordnete an: „Hier wird weiter gemacht und wenn nicht, werden Sie angezeigt.“ Stundenlang redeten Ärzte und Pflegekräfte auf ihn ein und wollten ihn vom Gegenteil überzeugen, aber er gab nicht nach. Schließlich bekamen wir sogar ein Schreiben von seinem Rechtsanwalt, das uns verbot, weiter auf ihn einzureden. Die Frau musste darunter leiden. Deshalb bin ich gegen aktive Sterbehilfe, aber gebe mein entschiedenes „Ja“ zur passiven Sterbehilfe.

Bist du bei der Arbeit offen mit deinem Glauben umgegangen?

Ich habe meinen Glauben so selbstverständlich und offen wie möglich gelebt. Natürlich konnte ich nicht mit jedem der 140 Patienten missionarische Gespräche führen. Gelegentlich wurde ich darauf angesprochen, dann habe ich auch etwas dazu gesagt. Es gab auch Situationen im Gespräch mit Patienten, wo es nahe lag, von meinem Glauben zu berichten. Auch bei der Begleitung von Patienten ergab es sich, dass wir über den Glauben sprachen. 

Hast du für den Ruhestand bestimmte Pläne, die du umsetzen willst?

Eines ist klar, ich mache jetzt nichts mehr mit Medizin. Mein Motto lautet: Entweder ganz oder gar nicht. Ich nutze meine Zeit, um ältere Leute aus der Gemeinde zu besuchen. Natürlich habe ich jetzt auch viel Zeit für meine Enkel. Das macht Spaß. Außerdem genieße ich es, dass ich wieder mehr Zeit gemeinsam mit meiner Frau verbringen kann.

Was war das Wichtigste, das du bei deiner Arbeit als Arzt gelernt hast?

Bescheidenheit.