Hier friere selbst der Teufel ein, behaupten
die Argentinier, so kalt sei es. Dabei ist Ushuaia noch nicht mal die
Antarktis. Aber das kleine Städtchen am letzten Zipfel Südamerikas, mitten in
Feuerland, ist immerhin das „Fin del Mundo“, das Ende der Welt, wie es überall
geschrieben steht auf Hauswänden, T-Shirts, Tassen und in den Bars und
Restaurants. Und bis zum wirklich kältesten und windigsten Kontinent der Erde
ist es nicht mehr weit, nur zwei Seetage. Die meisten Expeditionskreuzfahrten
starten daher von Ushaiua aus in die Antarktis, meist zwischen November und
März. Auf der südlichen Halbinsel ist im November Sommer, da erwacht die
Tierwelt, die bizarren Eiswelten glänzen oft im grellen Sonnenlicht, manchmal sind
sie eingehüllt in mystisch anmutende Nebelbänke. Auch die 111 Meter lange „Bremen“
sticht hier in See auf ihren Weg in die Antarktis, nimmt mit ihren 148 Gästen
jedoch zunächst östlichen Kurs Richtung Falklandinseln und Südgeorgien. Kapitän
Roman Obrist verspricht am Willkommensabend: „Wir sind auf einer Expedition
unterwegs, nicht auf einer Kreuzfahrt.“ Und er beruhigt charmant: „Ich komme
zwar aus der Schweiz, aber ich kann trotzdem ein Schiff steuern.“
Erster Seetag, ruhige See, die Gäste haben
Gelegenheit, sich in einem Vortrag auf die einzigartige Vogelwelt einzustimmen,
am Nachmittag werden rote warme Parka und Gummistiefel verteilt, man ist bereit
für die Expedition. Plötzlich eine
Durchsage von der Brücke: Ein Finnwal in der Nähe des Schiffes, die Back, das
Vordeck, wird geöffnet, die Gäste stehen bereit für das „Whalewatching“. Der
Wal aber hat wenig Lust auf „Touristwatching“ und taucht ab. Dennoch: erster
Tag, erster Wal, der Auftakt ist geglückt. Expeditionsleiter Stefan Kredel bittet
in die Panorama Lounge für einen Vortrag, der für alle verpflichtend ist, denn
für die Antarktis gibt es strenge internationale Verhaltensregeln.
Der
„Echo-Lima“, wie der Expeditionsleiter im Jargon heißt, gibt einen Überblick:
Tieren und vor allem Robben und Pinguinen darf man sich nur bis auf fünf Meter
nähern (die Tiere kennen diese Regel nicht, so kommt es auch zu freundschaftlicheren
Begegnungen), Vögel nisten meistens am Boden, daher auch hier Vorsicht bei
ungewollter Näherung, alle Vogelarten wissen mit aggressiven Methoden ihre
Nester zu verteidigen. Ausrüstung, Kleidung und Stiefel müssen nach jedem
Landgang gereinigt und desinfiziert werden (dafür stehen spezielle Schläuche
und Stiefelwaschanlagen auf dem Sidedeck bereit), so soll verhindert werden,
dass Flora und Fauna auf Gebiete und Inseln übertragen werden, wo sie gar nicht
hingehören. Und der Echo-Lima mahnt: „Die Antarktis ist einzigartig, das soll
auch so bleiben. Nehmen Sie bitte nichts mit außer Fotos und Ihren
Erinnerungen.“
Paradies für Vogelfreunde
Die „Bremen“ erreicht ihr erstes
Ziel, die Falklandinseln. Seit dem 17. Jahrhundert kämpften Spanien, England
und Argentinien um diese Inselgruppe, 1833 kam sie in den endgültigen Besitz
der Engländer, Robben- und Walfang und Schafzucht sorgten für gute Erträge.
Auch der Falklandkrieg 1982 zwischen England und Argentinien änderte nichts an
den Verhältnissen, Argentinien musste eine empfindliche Niederlage hinnehmen,
der nicht nur 1200 Soldaten das Leben kostete, sondern das Land zudem in eine
Wirtschaftskrise stürzte. Stanley, die Hauptstadt der Falklandinseln, begrüßt
mit strahlendem Sonnenschein, was für Inseln mit rund 200 Regentagen im Jahr nicht
selbstverständlich ist. Neben der Kathedrale ragt der „Whalebone Arch“ aus dem
Boden, ein Bogen aus den Kieferknochen von Blauwalen, eine Reminiszenz an die
alten Zeiten. In der Nähe der Gedenkstätten für die gefallen Soldaten des
Falklandkrieges sitzen Felsenkormorane und Magellangänse auf einem Schiffswrack,
am Himmel ziehen Truthahngeier ihre Kreise. Die Inseln sind ein Paradies für
Ornithologen, fast 150 Arten leben und brüten dort, darunter Vögel mit putzigen
Namen: Falkländische Dampfschiffente, Magellantauchsturmvogel oder
Schwarzbauchmeerläufer. Am Nachmittag erreicht die „Bremen“ Bleaker Island,
riesige Kolonien von Königskormoranen, Magellan- und Felsenpinguinen brüten
hier, ständig auf der Hut, dass Skuas, Raubvögel, nicht ihre Eier klauen. Für
die Reisenden ein faszinierendes Schauspiel. Und ein lustiges. Felsenpinguine
heißen auf Englisch: Rockhopper. Und genau das tun sie: über die Felsen hüpfen,
was sie mitunter tolpatschig, mitunter äußerst geschickt bewältigen. Manche ihrer
Nester befinden sich hundert Meter über dem Meer.
Der erste Wal, die ersten Pinguine – der Anfang dessen, was Reisende von einer Kreuzfahrt in die Antarktis erwarten, ist gemacht. Und der nächste Seetag zeigt ihnen, was es heißt, in einer der rauesten Gegenden der Erde unterwegs zu sein. Auf dem Weg nach Südgeorgien peitscht der Wind mit acht, in Böen mit bis zu zwölf Windstärken um die Takelage, Wellen von rund fünf Metern bauen sich auf und bringen die „Bremen“ ins Rollen und Stampfen. Vorträge, die normalerweise vorne in der Panorama-Lounge stattfinden, werden achtern in den Club verlegt, das Mittagsbüfett fällt ganz aus, serviert wird im Restaurant. Für diejenigen, die essen wollen. Über Nacht hat sich die Wetterlage entspannt, leichter Nebel liegt über dem Meer, die „Bremen“ wieder ruhig auf See. Die Temperaturen sinken weiter auf fünf Grad, das Wasser nähert sich der Nullgradgrenze.
Pinguine so weit das Auge reicht
Geologen haben über Generationen die
Fossilien auf den unterschiedlichsten Kontinenten verglichen – und sind auf
auffallende Ähnlichkeiten gestoßen. Daher weiß man heute: Vor über 200 Millionen Jahren zerbrach der
Urkontinent Gondwana in Südamerika, Australien, Vorderindien, Afrika und die
Antarktis. Weitere rund 100 Millionen Jahre später verschoben sich die
Kontinente erneut, Antarktika driftete weiter nach Süden, und durch vulkanische
Kräfte erhob sich schließlich Südgeorgien aus dem Meer. Die Zeiten des
Vulkanismus sind heute zwar vorbei, doch kleinere Erdbeben lassen die Natur
immer wieder mal erschüttern. Südgeorgien besteht heute vor allem aus
aufgefalteten Berkämmen, die fast 3000 Meter erreichen, mehr als die Hälfte der
Insel sind vergletschert. Millionen von Vögeln und Robben kommen jährlich hierher,
um ihre Jungen großzuziehen. Die meisten sind Pinguine, alleine anderthalb
Millionen Brutpaare an Königspinguinen und mehr als sieben Millionen Brutpaare
an Zügelpinguinen kommen zum Brüten auf die Insel.
Die erste Anlandung ist Fortuna
Bay, schon am Strand tummeln sich Seeelefanten und Seebären, sie dösen, kämpfen
gegeneinander, heben träge den Kopf, wenn sich Besucher nähern, direkt am
Strand bringt ein Weibchen gerade ihr Junges zur Welt, das noch völlig benommen
und schüchtern die neue Welt beguckt. Nur wenige Hundert Meter entfernt steht
eine Kolonie von Königspinguinen, in der Altvögel mit ihren Jungen stehen.
Königspinguine legen ihre Eier zwischen November und März, brüten dann etwa 55
Tage und kümmern sich um ihre Nachkommen den ganzen harten antarktischen
Winter. Mit Brut und Aufzucht sind die Alttiere ein gutes Jahr beschäftigt,
bekommen daher nur zwei Mal in drei Jahren ein Küken. Viele Jungvögel, die gut
an ihrem braunen Fell erkennbar sind, stehen in der Kolonie, spielen herum und nähern
sich neugierig den Besuchern, picken an Schuhen und Hosen. Einige Kadaver machen
deutlich, dass nicht alle Jungtiere die Aufzucht überleben. Wenn die Alttiere
von einer Jagd nicht zurückkommen, weil sie Opfer eines Angriffs oder krank geworden
sind, haben junge Pinguine keine Chance zu überleben.
Unweit dieser Kolonien erreicht
die „Bremen“ Stromness, eine alte Walfängerstation. Der Expeditionsleiter hat –
wie vor jedem Landgang – zusammen mit dem Chiefmate, dem ersten Offizier, den
Strandbereich erkundet und für ungefährlich erklärt. Auch wenn sich junge
Seebären immer wieder mal zum Angriff auf die Eindringlinge einlassen, sie sich
aber auch schnell zurückziehen, sobald sich ein Mensch vor ihnen in seiner
ganzen Größe aufbäumt. Die Walfangstation selbst darf nicht betreten werden,
die Baustoffe sind teilweise asbesthaltig, einige Gebäude sind
einsturzgefährdet. Ein paar Tage später strahlt in den frühen Morgenstunden die
Sonne über St. Andrews Bay, einer ganz besonderen Anlandung. Seebären und
Seeelefanten liegen auch hier faul am Strand, darunter einige ausgewachsene
Bullen, denen man sich nicht nähern sollte – mit lautem Gebrüll verteidigen sie
ihr Revier, und wenn sich die Tonnen Gewicht wabbelig auf den Eindringling
zubewegen, kann es unangenehm werden.
Das eigentliche Highlight jedoch wartet
nach einem kurzen Spaziergang: Abertausende Königspinguine, darunter unzählige
Küken, die von ihren Eltern gefüttert werden oder darauf warten, dass sie von
der Jagd zurückkommen. Es fiept, zwitschert und gurgelt wild durcheinander, und
weil fünf Grad Außentemperatur vielen Pinguinen schon zu warm ist, stehen
einige von ihnen in einem Schmelzwasserbach und kühlen sich die Füße. Vor
Jahren hat sich jemand die Mühe gemacht, die Tiere zu zählen: Rund 100.000
Paare.
Südgeorgien ist der Name einer einzelnen
Insel und die Bezeichnung der Inselgruppe, zu der diese gehört. 1775 setzte, so wird überliefert, der
berühmte Seefahrer James Cook als erster seinen Fuß auf die Insel und gab ihr den Namen „Isle of Georgia“, zu Ehren
von König George III.
Robbenfelle, das Fett von Seeelefanten und schließlich das Öl der Wale für die
Befeuerung von Lampen sicherten den Seefahrern aus Europa (vor allem Norwegern
und Briten) große Profite, trotz hoher Gefahren und hoher Verluste durch Wetter
und Eis. Auch wenn nach dem Zeiten Weltkrieg der Bedarf an Walöl anstieg, war
das Geschäft bald nicht mehr einträglich – die Bestände an Robben und Walen
waren zu stark dezimiert, viele Stationen wurden aufgegeben und ihrem Schicksal
überlassen, bis heute verrotten sie vor sich hin, an Entsorgung dachte man
damals noch nicht. Erst nach und nach wurden bei vielen Anlagen zumindest
Altlasten wie Schweröle und Asbest entfernt. Die meisten Stationen sind für Besucher
gesperrt. Nur Grytviken, der Hauptort Südgeorgiens und Sitz der Administration,
präsentiert sich heute wie ein riesiges Freilichtmuseum. Hier alleine wurden
zwischen 1904 und 1964 rund Zweidrittel aller 175.000 getöteten Wale
verarbeitet. Heute watscheln wieder Pinguine und Seeelefanten zwischen den
Ruinen und scheinen sich nach und nach die Natur zurückzuerobern.
Im Eis eingeschlossen
Grytviken hat zudem noch eine weitere
historische Bedeutung, denn hier
endete einer der legendärsten Expeditionen in die Antarktis. Das Endurance-Unternehmen
von 1914 bis 1917 zählt nicht nur zu einer der letzten großen Expeditionen des
Goldenen Zeitalters der Antarktis-Forschung, sondern auch zur spektakulärsten.
Die von Ernest Shackleton geleitete Unternehmung hatte das Ziel, als erste den
antarktischen Kontinent auf dem Landweg zu durchqueren. Die Expedition
scheiterte zwar, aber die Rettungsaktion wurde zur Legende und vielfach
verfilmt. 320 Tage waren Shackelton und
seine Männer auf ihrem Schiff „Endurance“ im Eis eingeschlossen, 165 Tage
überlebten sie auf Eisschollen, nachdem das Schiff eingequetscht, zerbrochen
und gesunken war. 129 Tage schließlich trotzten sie der Kälte, dem Hunger und
der Dunkelheit auf Elephant Island, das sie mit Rettungsbooten erreichten. Eine kleine Gruppe unter der Führung
Shackeltons fuhr schließlich auf einem Rettungsboot durch die raue See nach
Südgeorgien weiter, um von Grytviken aus Hilfe zu organisieren, was auch
gelang. Alle Männer konnten gerettet werden, die Expedition ging in die
Geschichte ein. Heute gibt es Bücher und Managerseminare, die sich mit der mit der
Führungskunst Shakletons beschäftigten, um sie für moderne
Unternehmensphilosophien zu nutzen. Als Shackelton
1922 bei einem weiteren Versuch, die Antarktis zu durchqueren, an einem
Herzversagen starb, wurde er auf Grytviken begraben. Das hatte der Forscher in
seinem Testament verfügt. So ist es bis heute ein Seefahrerbrauch, Shackelton mit
einem Umdrunk zu gedenken und ein Glas auf das Grab zu schütten. So macht es
auch Kapitän Obrist zusammen mit den Gästen. Bewegende Momente einer Kreuzfahrt
in die Antarktis.
Schnell kann das Wetter wechseln,
plötzlich zieht ein leichtes Sturmtief herauf, der Kapitän beschließt mit
seinen Offizieren und dem Expeditionsleiter Südgeorgien zu verlassen und den Kurs
Richtung Antarktische Halbinsel einzuschlagen. Den gleichen Seeweg, nur in
umgekehrter Richtung, nahm Shackleton mit seinen Männern im kleinen
Rettungsboot. Auf einem luxuriösen Kreuzfahrtschiff wie der „Bremen“ reist es
sich natürlich deutlich komfortabler, an Seetagen hat man Gelegenheit, die
Eindrücke der letzten Anlandungen, die stets mit den wendigen und unsinkbaren
Zodiacs durchgeführt werden, zu genießen und sich über Vorträge der Experten
aus Geologie, Meeresbiologie und Geschichte auf die nächsten Ziele
einzustimmen. Während die „Bremen“ dem Sturm ausweicht und durch ruhige See
gleitet, wirbeln die Schiffspropeller in ihrer Gischt immer wieder Fische an
die Oberfläche. So folgen in eleganten Schleifen Riesen- und Antarktissturmvögel
den ganzen Tag dem Schiff und tauchen ab, um sich die Beute zu schnappen.
Bizarre Eiswelten
Nach zwei weiteren Seetagen und
insgesamt knapp 2500 Seemeilen seit Ushuaia sichtet die Bremen schließlich die
antarktische Halbinsel. Die Luft hat Minustemperaturen erreicht, das Wasser den
Gefrierpunkt. Die „Bremen“ macht frühmorgens vor Elephant Island fest, der
kleinen Insel, von der aus Shackelton sich auf den Weg nach Südgeorgien machte.
In mehreren Gruppen von maximal 30 Gästen werden die Anlandungen mit den
Zodiacs organisiert, um die balzenden und teilweise schon brütenden
Zügelpinguine zu beobachten. Die Nester bauen die Männchen aus kleinen
Steinchen. Beliebt ist, sich die Steinchen von benachbarten Nestern zu klauen,
das verkürzt den Weg beim Sammeln erheblich. Nicht alle Nachbarn finden das
lustig, Auseinandersetzungen bleiben nicht aus.
Je weiter südlich sich die
„Bremen“ voran arbeitet, desto eisiger werden die Landschaften. Größer als Europa ist die Antarktis, doch wie
groß genau, ist unbekannt. Weite Teile der dauerhaften Eisbedeckung am Rande bestehen
aus Schelfeis, das Wasserflächen in Buchten und Kanälen überdeckt. Die
Antarktis ist zwar der kälteste Kontinent der Erde, 1982 wurden auf einer
russischen Forschungsstation fast minus 90 Grad Celsius gemessen. Aber die
Antarktis ist auch der trockenste, windigste und sogar mit durchschnittlich
rund 2300 Metern Höhe der höchste Kontinent. Nirgendwo auf der Erde sind
größere Extreme gemessen worden.
Die Zahlen insgesamt
sind beeindruckend: Fast die gesamte Fläche der Antarktis liegt unter einer bis
zu fünf Kilometer dicken Eisdecke, etwa Dreiviertel aller Süßwasservorkommen
sind im Eis der Antarktis gespeichert, und mehr als 90 Prozent des gesamten
Eises der Erde befindet sich auf dem sechsten Kontinent. Würde das gesamte Eis
plötzlich schmelzen, stiege der Meeresspiegel um rund 60 Meter. Aber im
antarktischen Klima taut das Eis nicht, sondern kalbt als Eisberge in das Meer,
schätzungsweise rund 70.000 sind es jährlich, meistens in riesigen
Abbruchstücken vom Schelfeis. Diese sogenannten Tafeleisberge können Höhen von
100 Metern erreichen, oft sind sie kilometerlang. 1956 wurde ein Tafeleisberg
von 333 mal 100 Kilometern gemessen. Sie sind häufig Jahre im Meer unterwegs,
bis sie immer weiter auseinander brechen und irgendwann nicht mehr sind. Das
Alter lässt sich gut einschätzen: Ist das Eis milchig weiß oder leicht grau,
dann ist es rund zwei Jahr alt, schimmert es smaragdgrün, fünf Jahre, leuchtet
es gar in bläulichen Tönen, ist es mehr als fünf Jahre unterwegs.
Doch obwohl
der antarktische Kontinent von einer riesigen
Packeiszone umgeben ist, hat sich darin eines der üppigsten Ökosysteme der Welt
entwickelt. In den Meeren wimmelt es von riesigen Schwärmen antarktischen
Krills und anderer Kleinkrebse. Dieser wenige Zentimeter lange Krill bildet den
Anfang der Nahrungskette für die zahlreichen Meeres- und Landtiere wie Fische,
Wale, Kalmare, Seelöwen, Seehunde und zahlreiche Meeresvögel. Daher verbringen die meisten Vögel in der
Antarktis den größten Teil des Jahres auf dem Meer, es bietet ihnen genug
Nahrung. Wenn der kurze Sommer eisfreie Flächen bietet, kommen sie an Land, um
zu brüten. Mehr als 8000 Arten kommen in der Antarktis vor, doch nur rund 35
von ihnen brüten an Land.
Die „Bremen“ gleitet durch den
„Antartic Sound“, Tafeleisberge ragen in strahlendem Sonnenschein aus dem
Wasser. Kapitän Obrist lässt sein Schiff nahe an einen kleinen Eisberg steuern
und das Vorschiff öffnen, so dass die Gäste ein seltenes Rendevouz beobachten
können: Zügel-, Adelie- und Eselspinguine teilen sich ein kleines Fleckchen auf
dem Eis. Eisberge können gefährlich werden, aber auch Packeis ist tückisch. Es
entsteht, wenn die Luft kälter ist als das Wasser. Zunächst bildet sich
arktischer Seerauch, dann formen sich Kristalle, diese klumpen zusammen, werden
milchig und langsam zu Eis, es wird dicker, bedeckt die See, wird zur Barriere,
die manchmal am Horizont so riesig ist, dass sie unüberwindlich scheint. Doch
diese Eisbarriere ist nur eine Fata Morgana: Treibeis wird in der flimmernden
Luft senkrecht nach oben reflektiert, es erscheint höher als es tatsächlich
ist. Frühere Seefahrer waren sich dieser Täuschung nicht bewusst und
umschifften diese Eisflanken, oftmals mit fatalen Folgen, sie verirrten sich.
Der
norwegische Polarforscher und Friedensnobelpreisträger Fridtjof Nansen
berichtet, wie er mit seiner „Fram“ Ende des 19. Jahrhunderts vom Eis in der
Arktis eingeschlossen wurde: „Die erste Eispressung! Sie schob sich aus der
Nacht heran, schreiend und wimmernd wie ein kleines Kind. Jeder hielt sie
zunächst für den Wind, der aus dem Dunkeln kam, durch die Takelage strich und
wieder ins Dunkel davon wehte. Dann donnerte es in der Ferne, grollte es wie
ein erwachender Vulkan, knirschte näher, splitterte, zerbrach, türmte sich auf,
gurgelte, zischte. Die Eismassen stießen, überschoben sich, glitten näher – der
Stoß traf das Schiff.“ Auch heute noch bleibt Eis unberechenbar, es ist ständig
in Bewegung, Winde und Strömungen schieben es vor, zurück, über- und
auseinander. Eiskarten, die man aus dem Internet herunterladen kann, sind immer
Vergangenheit und nur eine ungefähre Prognose, wo sich das Eis befindet.
Auf einem Schiff wie der „Bremen“,
das die höchste Eisklasse für ein Passagierschiff besitzt, darf man sich bei
der Suche nach Abenteuern indes sicher fühlen. Früher aus Holz, ist der Rumpf
heute aus Eisen und auf seiner ganzen Länge verstärkt, teilweise mit einer bis
zu 16 Millimeter starken Außenhaut (statt sechs Millimeter), sind Zusatzspanten
eingebaut und die Propeller aus Edelstahl statt aus Bronze gefertigt. So kann
die „Bremen“ mit vier bis fünf Knoten bis zu fünfzig Zentimeter dickes Eis
durchpflügen. Nur wenn es dicker wird, muss ein Eisbrecher vorausfahren. Der Kapitän
hat seine „heiligen Hallen“ gleich hinter der Brücke. Bei Eis wird er ständig
kontaktiert, steht meisten selbst auf der Brücke. Nach einer Night-Order gibt
es Anweisungen, wann der Kapitän nachts geweckt wird. Worst-Case: Nacht, Eis
und Nebel. „Das ist aber nicht wirklich ein Problem“, sagt Kapitän Obrist, „wir
fahren dann einfach langsamer.“
Der Kurs geht weiter Richtung
Süden, auf den Südshetland Inseln fährt die „Bremen“ auf Deception Island ein,
eine Bucht, die der Rest eines riesigen Vulkans ist, der unter seiner eigenen
Last eingebrochen ist. Neptun’s Bellow nennen die Seefahrer die Einfahrt in den
gigantischen Einsturzkrater. Der Kapitän nimmt dabei die Geschwindigkeit stark
zurück, denn die Einfahrt ist eng, höchste Konzentration beim Navigieren ist
gefragt, vor ein paar Jahren ist die „Nordkap“ auf Grund gelaufen. Jahrelang
diente die Caldera als Walfanghafen, später wurde eine Forschungsstation
eingerichtet, die jedoch schon lange verlassen in der eisigen Landschaft liegt.
Ganz erloschen ist der Vulkan nicht, an einigen Stellen des Strandes steigen
Dämpfe aus dem schwarzen Lavasand auf, ist das Wasser im Vergleich zu den
sonstigen Temperaturen warm. Doch „warm“ ist in der Antarktis relativ, auch hartgesottene
Gäste, die sich ein Bad gönnen, halten es nur wenige Momente aus, bevor sie sich
zwar stolz, aber bibbernd in warme Kleidung schmeißen. Inzwischen haben Kapitän
und seine Offiziere einen besonderen Plan. Nachdem ein Vortrupp die Standfestigkeit
des Eises geprüft hat, steuert der Kapitän die „Bremen“ in die Eisdecke, es
kracht und knirscht, riesige Schollen brechen auseinander, driftet aber weg, so
dass der eigentliche Plan, direkt vom Sidegate aus auf das Eis zu laufen,
geändert werden muss: Eine Lücke von wenigen Metern wird mit Zodiacs
überwunden, dann gehen nacheinander Gäste und Crew-Mitglieder auf das Eis. Ein
ganz besonderer Moment, den jeder mit seiner Kamera festhält.
Eine Landschaft als Droge
Jeden Tag warten auf die Gäste
etwa zwei bis drei Anlandungen mit den Zodiacs, nicht selten in frühesten
Morgenstunden. Neko Harbour und Port Lockroy sind weitere Stationen, in Paradise
Bay, einer Bucht, die einst Walfänger so genannt haben, präsentiert sich eine
faszinierende Eiswelt aus bizarr geformten Gletscherkanten, in Nuancen von
Türkis schimmernden Eisbergen und Tausenden von kleinen Schollen, durch die die
Zodiacs sanft hindurch tuckern. Fridtjof
Nansen hat diese Stimmung wohl auch erlebt, als er schrieb: „Die Natur, stark
und wild, ist wie eine alte, in Schnee und Eis gemeißelte Sage, die manchmal in
so feiner und zarter Stimmung ist wie ein Gedicht.“ Hier findet der Mensch zu
sich selbst, entschleunigt unweigerlich angesichts der grandiosen Natur, ist
wie auf einem Trip. Nur ohne Drogen. Hier ist die Landschaft die Droge.
Nach rund 3400 Seemeilen hat die „Bremen“
auf 65°56 südlicher Breite und 63°41 westlicher Länge den südlichsten Punkt der
Reise durch die Antarktis erreicht. Langsam geht es wieder Richtung Norden. Vor
Danco Island wirft das Schiff noch einmal den Anker, entlang der Pinguinwege,
auf denen die Pinguine im Gleichschritt den schneefreien Gipfel erreichen
wollen, um dort zu brüten, macht sich das Expeditionsteam auf, um durch tiefen
Schnee ebenfalls einen Weg zu spuren. Anstrengend, aber wer den Weg gefolgt
ist, wird mit einem atemberaubenden Blick auf die umliegenden Inseln und das
antarktische Festland belohnt, auf das sich ein diffuses Licht ausbreitet, da
sich die Sonne nur schwach durch die tiefliegenden Schleierwolken ausbreiten
kann.
Kapitän Obrist lässt die letzte
Station der Reise ansteuern, die besonders für die „Bremen“ von besonderer
Bedeutung ist, denn auf Melchior Island liegt der Bremen-Kanal. 2003 machten
Zodiac-Fahrer der „Bremen“ die Entdeckung, dass eine Bucht der Omegainsel eben keine
Bucht, sondern ein Kanal ist. Bis 2003 hatte stets eine dicke Eisdecke diesen Kanal
überspannt, jetzt war er zum ersten Mal eisfrei. Seekarten wurden entsprechend
geändert, der Kanal bekam zu Ehren ihrer Entdecker den Namen „Bremen-Kanal“,
die danebenliegende Insel heißt seither „Bremen-Insel“. Im November, so wie bei
dieser Reise, liegt allerdings noch dickes Eis über dem Kanal, eine Durchfahrt ist
nicht möglich. Belohnt werden die Reisenden aber mit einem tollen Blick auf
faszinierende Eislandschaften und Weddelrobben, die auf dem Eis dösen. Und mit
dem plötzlichen Auftauchen eines weiblichen Seeleoparden, die ihr Junges dabei
hat.
Keine Welle reget sich?
Wer hätte es gedacht? Selbst Johann Wolfgang von
Goethe verfasste Poesie über das Meer: „Tiefe Stille herrscht im Wasser, ohne
Regung ruht das Meer, und bekümmert sieht der Schiffer, glatte Fläche
ringsumher. Keine Luft von keiner Seite! Todesstille fürchterlich! In der
ungeheuren Weite, reget keine Welle sich.“ Reget kein Welle sich – damit ist
klar, dass Goethe noch nichts von der Drake-Passage gehört, geschweige denn sie
je erlebt hatte. Denn so wie die Reise mit der „Bremen“ in die Antarktis
begann, so endet sie auch: stürmisch. Sehr stürmisch. Entspannt steht Kapitän
Roman Obrist auf der Brücke und schaut auf die Wellen, die auf das Schiff
zurollen: „Das Schiff stampft ganz ordentlich, ja“, sagt er nonchalant. „Aber
die Bremen liegt gut im Wasser. Und außerdem gehört eine stürmische
Drake-Passage zur Antarktis. Man möchte zu Hause ja was erzählen können.“ Zu
erzählen hätte man allerdings auch ohne Drake-Passage genug. Die Erinnerungen
sind voll. Langsam verschwindet die Antarktis achtern. Und wenn der nur wenige Monate andauernde Sommer
vorbei ist, verlassen auch die Tiere, allen voran die Robben und Vögel, wieder
das Land. Dann kehren Ruhe, Dunkelheit und eisige Kälte in die Antarktis
zurück. Bis zum nächsten Sommer. Und bis zum nächsten Schiff.
Antarktis-Reportage. Für: An Bord. © Lutz Jäkel 2013