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Feature

Arktis: Eiskalter Zauber

Eine Reise entlang der Nordwestpassage

Sie ist eine Welt voller wundersamer Dinge. Grönländisches Löffelkraut, dreizipfliger Steinbrech oder Knöllchen-Knöterich, all das wächst hier. Trottellummen, Dickschnabellummen und Dreizehnmöwe fliegen, Klappmützenrobben schwimmen und tauchen hier. Die wenigen Häuser stehen auf Stelzen und Wasserleitungen laufen überirdisch, weil Permafrostboden eben nicht der ideale Baugrund ist. Diese Welt ist die Arktis, ein gefrorener Ozean, aber auch ein aus Eis geformtes Land; für viele europäische Entdecker wurde sie zur Verheißung, oftmals zu deren Grab. Eine Reise durch die Arktis verspricht Gänsehaut, auch heute noch.

Thilo Natke, Kapitän des Kreuzfahrtschiffes MS Hanseatic, betont deswegen beim Willkommens-Cocktail: „Wir sind auf einer Expedition, nicht auf einer Kreuzfahrt.“ Expeditionsleiter David Fletcher, der mehr Zeit seines Lebens im ewigen Eis verbracht hat als in seiner Heimat England, gibt noch einen Schuss Gänsehaut dazu: Eisbären sind putzig, gewiss, aber auch gefährlich! Also: „Versuchen Sie nicht, noch ein Foto vom weißen Riesen zu machen, bevor Sie die Flucht ergreifen. Es könnte Ihr letztes gewesen sein.“ Immerhin: Eisbären sind intelligent, sie überlegen, bevor sie angreifen. Moschusochsen hingegen sind einfältig: Sie greifen an und überlegen hinterher, ob es gut oder schlecht ist, was sie angerichtet haben. Für den Menschen ist es einerlei, der Schädel des gewaltigen Moschusochsen ist hart, die Hörner sind scharf.

Solche Geschichten hören die Gäste der Hanseatic gerne, Abenteuer werden schließlich schon im Katalog versprochen. Und dieses Mal geht es sogar auf eine der berühmtesten Seefahrtwegen der Welt: die Nordwestpassage. Entlang spektakulärer Eislandschaften bis in den hohen Norden Grönlands, wo Inuit noch von der Jagd nach Robben, Walen und Eisbären leben, jenseits des Nordpolarkreises, schon fast in Sichtweite des Nordpols, schließlich durch die tiefen Kälteregionen Kanadas bis nach Alaska in den USA führt diese Route durch die Arktis.

In Resolute Bay, einem der wenigen Orte entlang der rund 5700 Kilometer langen Nordwestpassage, gibt es T-Shirts zu kaufen mit einem verheißungsvollen Spruch: „Das ist noch nicht das Ende der Welt. Aber man kann es von hier aus schon sehr gut sehen.“ 

Über vierhundert Jahre lang haben Seefahrer verzweifelt einen Handelsweg von Europa nach China gesucht, nach einer direkten Verbindung vom Atlantik zum Pazifik. Ob dieser Weg wirklich existierte, wusste niemand mit Sicherheit zu sagen. Purer Glaube trieb die Eroberer an. Und führte sie oft in den direkten, eiskalten Tod. Kein anderer Seeweg hat so viele Opfer gefordert. Ertrinken war noch die harmlosere Variante des Sterbens, denn bei den eisigen Wassertemperaturen hört das Herz auf zu schlagen, bevor man ertrinkt. Andere Abenteurer sind grausam erfroren, verhungert, sind an der Dunkelheit des langen arktischen Winters, an der Langeweile und Einsamkeit verzweifelt, wurden von Eisbären angefallen oder von Leidensgenossen erschossen, weil es sonst nichts mehr zu essen gab.

Für viele war die Nordwestpassage ein Traum, irgendwann wurde sie zum Albtraum, schließlich zum Mythos. Dieser Mythos hält bis heute an, und selbst modern Reisende zieht er in ihren Bann, dafür sind sie bereit, viel Geld zu zahlen.

Tückisches Eis


Die Annehmlichkeiten, die ein Fünfsterneschiff wie die Hanseatic bei einer Expedition bietet, hätte sich mancher Seefahrer vor einigen Jahrhunderten allerdings auch gewünscht, nur ein Bruchteil davon hätte schon genügt. Gegen Kälte schützt man sich heute mit einem aus allerlei Stoffhightech gefülltem dicken Anorak (ein Wort übrigens, das aus der Sprache der Inuit stammt), man lümmelt im warmen Bett der großzügig gestalteten Kabine oder taut in der Schiffssauna auf. Anschließend serviert die Küche, wie jeden Abend, ein Mehrgängemenü, bei dem es sich wohlig über die „Abenteuer“ der vergangenen Tage schwärmen lässt: Erstes Packeis! Riesige Eisberge bei der Zodiac-Fahrt! Ein Eisbär! Polarlichter! Belugas!

Auf einem Schiff wie der Hanseatic, das die höchste Eisklasse für ein Passagierschiff besitzt, darf man sich bei der Suche nach Abenteuern sicher fühlen. Früher aus Holz, ist der Rumpf heute aus Eisen und auf seiner ganzen Länge verstärkt, teilweise mit einer bis zu 16 Millimeter starken Außenhaut (statt sechs Millimeter), sind Zusatzspanten eingebaut und die Propeller aus Edelstahl statt aus Bronze gefertigt. So kann die Hanseatic mit vier bis fünf Knoten bis zu fünfzig Zentimeter dickes Eis durchpflügen. Nur wenn es dicker wird, muss ein Eisbrecher vorausfahren. 

Eis ist tückisch. Es entsteht, wenn die Luft kälter ist als das Wasser. Zunächst bildet sich arktischer Seerauch, dann formen sich Kristalle, diese klumpen zusammen, werden milchig und langsam zu Eis, es wird dicker, bedeckt die See, wird zur Barriere, die manchmal am Horizont so riesig ist, dass sie unüberwindlich scheint. Doch diese Eisbarriere ist nur eine Fata Morgana: Treibeis wird in der flimmernden Luft senkrecht nach oben reflektiert, es erscheint höher als es tatsächlich ist. Frühere Seefahrer waren sich dieser Täuschung nicht bewusst und umschifften diese Eisflanken, oftmals mit fatalen Folgen, sie verirrten sich. Auch heute noch bleibt Eis unberechenbar, es ist ständig in Bewegung, Winde und Strömungen schieben es vor, zurück, über- und auseinander. Eiskarten, die man aus dem Internet herunterladen kann, sind immer Vergangenheit und nur eine ungefähre Prognose, wo sich das Eis befindet. Vor ein paar Jahren musste das Schwesterschiff MS Bremen umkehren, das Eis war zu dicht, eine Fahrt durch die Nordwestpassage war nicht möglich. 

„Auf welchem Schiff kann man Kapitän sein, bei dem der Fahrplan nur eine ganz ungefähre Vorgabe ist?“, fragt Kapitän Thilo Natke. „Wir müssen bei einer Reise durch die Arktis stets flexibel sein. Das macht die Reise zu etwas Besonderem.“ Zusammen mit Expeditionsleiter (dem „Echo-Lima“) David Fletcher hat der Kapitän etwa zehn Tage im Voraus die Route geplant. Es gibt feste Punkte, die eingehalten werden müssen: In Cambridge Bay muss Proviant aufgenommen werden, in Herschel Island gibt es einen Lotsenwechsel. Alles andere ergibt sich. Am schwierigsten wird es, wenn Nacht, Eis und Nebel aufeinander treffen. „Dass es Nacht ist, wissen wir. Wann Eis und Nebel auftauchen, können wir nicht beeinflussen“, erklärt der Kapitän. „Aber bei solchen Situationen müssen wir noch nicht umkehren oder einen anderen Kurs wählen. Wir fahren einfach sehr langsam und vorsichtig.“ 

Viele kleine Inseln, Untiefen, heftige Stürme machen das Navigieren zudem schwierig. „Wer den nördlichen Ozean nicht mit eigenen Augen im Sturm gesehen hat, weiß nicht, was das Wort Eis besagt… Da lernt man begreifen, wie klein und hilflos Mensch und Menschenwerk gegenüber Naturgewalten sind“,  schrieb Sir John Ross, einer der berühmtesten Abenteuerhungrigen Anfang des 19. Jahrhunderts. Aber auch damals schon fürchtete man vor allem: Eisberge. Sie kommen von gebrochenem Eis, fast alle von Grönland. Die größte Insel der Erde, die sechs Mal so groß ist wie Deutschland, bedeckt bis zu 3000 Meter dickes Eis. Würde alles Eis Grönlands schmelzen, stiege die Wasserlinie weltweit um rund sechs Meter. Doch das Eis drängt nur langsam an die Ränder der Insel, wo es ins Meer abbricht und Eisberge von oftmals mehreren Kilometern Länge entstehen lässt. Die schönsten von ihnen kalben in der Diskobucht ins Wasser und kommen durch die Meeresströmung manchmal bis nach New York. Vor hundert Jahren knallte die Titanic an einen solchen Eisberg. 

Ungewisses Schicksal auf Beechey Island


Die Hanseatic kommt gut voran, Grönland liegt hinter ihr, Kanada ist erreicht, immer wieder gibt es Anlandungen (im Entdeckerjargon „Shore-Party“ genannt), bei denen zuvor der „Echo-Lima“ mit dem ersten Offizier im Zodiac, den robusten Schlauchbooten, das Land inspiziert. Sie müssen sicher sein, dass keine Eisbären in der Nähe sind. Niemand soll das letzte Foto machen müssen. An Land fällt auf: keine Bäume, kaum Sträucher. Die Landschaft entlang der Nordwestpassage ist durch Gletscher der Eiszeiten flachgehobelt, sie wirkt trostlos, aber auch mystisch.

 Dann eine ganz besondere Shore-Party: Beechey Island, eine einsame Insel im kalten Nichts. Sie steht stellvertretend für die vielen Tragödien, die sich in diesem Teil der Arktis abgespielt haben. Sir John Franklin hat hier Mitte des 19. Jahrhunderts mit seinen beiden Schiffen „Erebus“ und „Terror“ den Winter verbracht. Dann sind sie verschwunden, Männer und Schiffe. 129 Seeleute kamen im Laufe jener Expedition ums Leben, niemand weiß mit Sicherheit, was mit ihnen passiert ist. Nur drei Gräber, die Ruine eines Holzhauses, viele rostige Konservendosen und eine Gedenktafel auf Beechey-Island erinnern an das Schicksal. Erst im September 2014 wurde eines der beiden Schiffe geortet, in elf Metern Tiefe. Es soll geborgen werden, so erhofft man sich weitere Kenntnisse über die Ursachen ihres Verschwindens.

 Der Kapitän der Hanseatic hält anlässlich des besonderen Moments eine Rede und folgt einer Tradition: Er legt eine Kapsel am Denkmal nieder, in der sich eine Liste mit den Namen der Passagiere und der Crew befindet. Auch für die reiseverwöhnten Passagiere ein besonderer Moment. Immerhin: Im Laufe der vielen Suchexpeditionen nach Franklin hat man auch den letzten Teilabschnitt der Nordwestpassage gefunden. Roald Amundsen durchsegelte in den Jahren 1903 bis 1906 den legendären Seeweg als erster Mensch vollständig. Aber schon er wusste: Die Passage führt nicht zu Gold und Reichtum, sie ist zu risikoreich, wegen des Eises zu unberechenbar, zu kostspielig, wirtschaftlich völlig uninteressant. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

Für die modern Reisenden der Hanseatic bleibt es ein Abenteuer. So wie Dundas Harbour im Lancaster Sound: eine verlassene Station der Royal Canadian Mounted Police, eine Geisterstadt. Auf einer Anhöhe befindet sich ein Dutzend Gräber. Was die Polizisten hier vor über hundert Jahren gemacht, wen oder was sie bewacht haben, weiß man nicht mehr. Auch nicht, warum sie so jung gestorben sind. Die Einfahrt in Resolute Bay fällt aus. Dichtes Packeis schiebt sich zur Seite, die Hanseatic bahnt sich ihren Weg, die Geschwindigkeit ist stark gedrosselt. Doch nach zwei Meilen steckt sie fest. Untiefen erschweren die Einfahrt. Rückzug. Schließlich gleitet der Luxusliner durch die Simpson Strait, höchste Aufmerksamkeit auf der Brücke. Aus gutem Grund: Unter Kiel hat das Schiff nur noch fünf Meter. Nicht viel. 1994 ist die Hanseatic in dieser Straße auf Grund gelaufen, die Passagiere saßen eine Woche lang fest, einige kamen mit einem russischen Eisbrecher weiter, andere wurden ausgeflogen. Für die Gäste war das Abenteuer pur, für die Reederei weniger lustig.

 Dieses Mal schrappt nichts am Kiel. Die geplante Anlandung von Jenny Lind Island muss allerdings abgesagt werden, die Insel liegt im dichten Nebel, es könnten sich Eisbären an Land befinden. Abends Ankunft in Cambridge Bay, und den Reisenden wird ein weiteres Schauspiel geboten: Polarlichter tanzen in schillernd grüngelben Nuancen durch den nächtlichen Himmel, Sternstunden einer arktischen Nacht. Am nächsten Morgen: frühes Aufstehen, die Shoreparty in der Jesse-Bay ist für 7 Uhr angesetzt. Nebel hängt auf dem Wasser, das Wetter ist trüb, vereinzeltes Packeis schwimmt am Ufer. Bei der Wanderung durch die Tundra sinkt man knöcheltief in aufgeweichten Permafrostboden, Skelette von Moschusochsen liegen herum, manchmal nur die Köpfe. Der „Echo-Lima“ David hält Ausschau und entdeckt plötzlich in der Ferne einen Eisbären, den er aus den Augen verliert. Erneuter Rückzug.

Nach Tagen erreicht die Hanseatic schließlich Barrow, die nördlichste Siedlung des amerikanischen Kontinents: Die Nordwestpassage ist geschafft! Rund 5000 Seemeilen von Grönland nach Alaska und 23 Anlandungen liegen hinter ihr. Am Abend wird auf dem Pooldeck mit Champagner auf den Erfolg angestoßen. „Auch wenn das Eis von Jahr zu Jahr weniger wird, bleibt die Nordwestpassage eine ganz besondere Reise“, ist Kapitän Thilo Natke überzeugt. „Wir bewegen uns auf einem der historisch bedeutendsten Seewegen der Welt. Und es ist nie sicher, ob man die Passage schafft. Das Eis ist immer ein Hindernis.“ 

Dieses Mal hat es wieder geklappt. Ringelrobben sitzen auf den Schollen, sobald sich das Schiff nähert, gleiten sie ins Wasser, schauen ab und an mal kurz aus dem eiskalten Nass, verschwinden schließlich wieder. Kaum sind die Eisschollen verschwunden, umhüllt eine dichte Nebelwand zum letzten Mal auf dieser Reise die Hanseatic. Fridtjof Nansen, der norwegische Polarforscher, hat diese Stimmung wohl auch erlebt: „Die Natur, stark und wild, ist wie eine alte, in Schnee und Eis gemeißelte Sage, die  manchmal in so feiner und zarter Stimmung ist wie ein Gedicht.“

Erschienen in "abenteuer und reisen" 11.2012