Der Lotse ist an Bord. Der erste Offizier, der die "Europa" aus dem Hafen steuern wird, gibt Anweisungen über das Funkgerät: Klar bei Achterspring, Vorleine fieren, eins und eins aufkürzen. Zu Deutsch: Leinen los. Kapitän Friedrich Jan Akkermann hat noch einen Tipp parat: "Aufpassen, nicht dass du mit dem Heck durch den Modder fährst." Die "Europa" nimmt Kurs auf Barcelona.
In der Küche bereitet man derweil die Menüs für die vier Restaurants vor. Es ist der letzte Abend vor Ende einer Reise, an dem gerne Rustikales aufgefahren wird. Mit Trüffeln gespickte Perlhuhnbrüstchen auf Rahmpolenta, gebratenen Schwarzwurzeln an Barolojus oder halber Hummer mit Weißweinsauce und Cognacschaum sind lecker, aber nach den vielen Tagen Haute Cuisine ist Holsteiner Ente mit Kartoffelknödel bei den Gästen der Renner. Oder Schnitzel.
Doch heute Abend werden viele der etwa 200 vorbereiteten Schnitzel liegen bleiben: Der Wetterbericht verheißt mehr als nur eine steife Brise, mehr als sechs Windstärken, da kommt auch die "Europa" ins Schaukeln. "Ist die See ruhig, merkt man oftmals gar nicht, dass man auf einem Schiff arbeitet", sagt Matthias Mayr, einer der 45 Köche.
Doch heute merkt man es. Da werden Bullaugen verschlossen, Servierwagen gesichert und Gitter hochgeschoben, damit Töpfe nicht von den Herdplatten rutschen, was sich dennoch nicht immer verhindern lässt. Die Straße von Bonifacio, die nur etwa zwölf Kilometer breite Meerenge zwischen Sardinien und Korsika, ist berüchtigt für ihre widrigen Wetterbedingungen. Die Wellen schlagen heftig gegen den Bug, an Deck werden zehn Windstärken gemessen: Das bedeutet Orkanstärke.
Bouillon bei starkem Seegang
Küchenchef Stefan Wilke hat seinen Stuhl im Büro angebunden, damit er die Menüs für die nächsten Tage planen kann. Auch der eine oder andere Koch ist etwas blass um die Nase. "Ich hatte bisher Glück", sagt der 29-jährige Wilke aus dem Ländle, "seekrank bin ich noch nicht geworden. Ich werde eher müde von starkem Seegang." Also fast "business as usual", nur ruhiger.
Heute hat vor allem der Suiten-Service zu tun. Beliebtes Abendessen bei bis zu acht Meter hohen Wellen: Bouillon ohne Einlage oder nur halbe Portionen. Oder auch gar nichts. Rumms, und schon wieder hat sich ein Teller vom Tresen verabschiedet. Einige Köche legen Folie aus, um das Rutschen zu verhindern. Während draußen das Meer tobt, ist es in der Küche zur Abwechslung ruhig. Vertauschte Rollen.
4000 Kalorien täglich
Frühaufsteherfrühstück, Frühstück, Vormittagsbouillon, Mittag- und Abendessen, Nachmittagskaffee und -tee mit Gebäck, heiße Waffeln, Mitternachtssnack, das sind die Verlockungen, die die rund 400 Gäste der "Europa" - bei ruhiger See - herausfordern. 4000 Kalorien täglich nimmt hier jeder Passagier im Durchschnitt zu sich, am Ende einer Reise sitzt die Garderobe nicht mehr ganz so elegant.
Damit Stefan Wilke und sein Team Sterne vom kulinarischen Himmel holen können, müssen die Lager mit all den erlesenen Zutaten stets gut gefüllt sein. Dafür ist Silvio Ulrich verantwortlich: Der 29-Jährige ist der Hotel Inventory Controller, kurz HIC. Er ist an Bord der Herrscher über 20.000 Artikel. Alle fünf bis sechs Wochen gibt es ein "Heavy Stoaring", egal, wo auf der Welt die "Europa" unterwegs ist. Dann stehen zehn bis zwölf 40-Fuß-Container verteilt auf zehn Lkw vor der "Europa" mit der Produktpalette eines mittleren Supermarkts und eines kleineren Feinkostladens.
Eine Tonne Reis für die Crew
Im Durchschnitt verschwinden 170 Tonnen im Bauch des Schiffs: unter anderem zehn Tonnen Fleisch, eine Tonne Butter, 5300 Liter Milch, drei Tonnen Mehl, 4000 Rollen Toilettenpapier, 2200 Liter Eiscrème, 6000 Flaschen Wein, 4200 Liter Bier, 2500 Flaschen Champagner und Sekt und eine Tonne spezieller Reis für die philippinischen Crewmitglieder. Steht Weihnachten vor der Tür, kommen alleine sechs Europaletten Schokolade dazu.
Alle zwei bis drei Wochen muss zudem neue Frischware gebunkert werden, etwa 15 Tonnen an Obst und Gemüse und rund 15.000 Eier. Das wird lokal eingekauft, oder es kommt mit dem Flieger oder Lkw, zusammen mit den Blumen aus Holland. Die rund 1200 Austern und 300 Hummer, die alle zwei Wochen angeliefert werden, werden in Styroporkisten auf feuchtem Zeitungspapier und Seetang gebettet. So sind sie gute vier Tage transportierbar.
Dennoch muss gerade dafür der Transportweg genau berechnet sein. "Das größte Hindernis sind die letzten Meter vor dem Schiff", sagt Stefan Femerling von der Hamburger Firma Sea Chefs, die für Einkauf und Kontrolle der Waren zuständig ist. "Tausende von Kilometern sind Austern in den hintersten Winkel der Erde unterwegs, die Kühlkette kann über Tage eingehalten werden, alles klappt. Und dann werden die Viecher auf einer Kutsche bei 50 Grad Lufttemperatur zum Schiff gebracht. Das überlebt keine Auster."
HIC als Vorkoster
Es gibt aber auch andere Probleme: Bei einer Getränkelieferung hatte an Bord des Containerschiffes jemand den Thermostat offenbar verdreht. Statt plus 6 Grad waren es minus 20 Grad. Die meisten Flaschen waren geplatzt, die Korken hatten sich aus den Weinflaschen gesprengt.
"Eine Containerlieferung ist ein bisschen wie Weihnachten", sagt Silvio Ulrich und grinst dabei über das ganze Gesicht. "Man darf auspacken und gespannt sein, was sich darin befindet. Aber am liebsten ist es uns natürlich, wenn wir keine Überraschungen erleben müssen."
Im Kühlhaus befindet sich auch das Allerheiligste, zu dem nur drei Personen an Bord Zutritt haben: Kapitän, Food & Beverage Manager und der HIC. Denn hinter jener dicken Tür befinden sich die Kaviarvorräte, immer gut gefüllt. Aktuell sind es 70 Kilogramm im Wert von rund 140.000 Euro.
"Weltweit werden pro Jahr rund 20 Tonnen Wildkaviar gehandelt und verspeist. Davon geht alleine mehr als eine halbe Tonne auf die 'Europa'", sagt Stefan Femerling.
Pro Reise werden 15 Kilogramm verbraucht, allein am Galaabend wandern rund sieben Kilo in echte und vermeintliche Gourmetmünder. Und sollte unerwartet doch mal etwas zur Neige gehen, gehen HIC und der Küchenchef vor Ort einkaufen.
Doch das kann auch schief gehen: "Auf einem Fischmarkt in Südkorea haben wir Austern probiert", erzählt Ulrich. "Ich lag anschließend zwölf Tage mit einer Fischvergiftung im Krankenhaus." Der HIC, ein Vorkoster für die Gäste. Da hätte auch eine ruhige See nicht geholfen.
Buchtipp: Lutz Jäkel: "Genießen auf den Weltmeeren. Eine kulinarische Weltreise mit MS EUROPA"; Neuer Umschau Verlag, August 2008, 192 Seiten, 34,90 Euro Buch bestellen