Augustes Männer fanden ihre Liebe an einem Ort, an dem die Sonne niemals scheint. An einem Ort, den Neonröhren dauerhaft mit grellem Licht ausleuchten, an einem staubigen, zugigen, vergessenen Ort.
Auguste Victoria, eine Steinkohlezeche aus 45772 Marl im nördlichen Ruhrgebiet, ist keine Schönheit. Man muss sie kennenlernen, um sie zu lieben. Sie sind stolz, sagen die Bergmänner hier, zu den Letzten in Deutschland zu gehören, die sich unter Tage noch den Arsch aufreißen. Für ihre Auguste.
Die Liebe begann zu einer Zeit, als Arbeit noch Maloche und mit deutscher Steinkohle noch Geld zu machen war; als sich niemand um den Klimawandel sorgte, weil es das Wort noch nicht gab. Diese Zeit ist lange vorbei. Deshalb haben Bundes- und Landespolitiker im Jahr 2007 beschlossen: Auguste muss sterben.
Dezember 2015. Noch arbeiten 1.350 Kumpel auf Auguste Victoria, einem Bergwerk der RAG Deutsche Steinkohle. Um rentabel zu sein, müsste sie die Kohle für 175 Euro pro Tonne verkaufen. Der Marktpreis liegt bei 75 Euro. Seit einem halben Jahrhundert halten Auguste Milliardensubventionen von Bund und Land am Leben, nun laufen sie aus. Ende des Monats wird die Zeche schließen, als Vorletzte von einst mehr als 100 im Ruhrgebiet. Nach 116 Jahren. Der Bergbau, der den Pott groß und Marl reich gemacht hat, wird bald Geschichte sein.
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1 - Liebe auf den ersten Blick
Das Gesicht voller Dreck, die Augen tief in ihren Höhlen, steigt Ruben Beran aus dem Förderkorb. Es ist 13 Uhr, Ende der Frühschicht. Ruben, 26 Jahre alt, breit und bärtig, arbeitet als Elektriker unter Tage. Er hat heute Schaltkästen geschleppt, klobig und schwer wie Cola-Automaten, erzählt er in der Waschkaue, wo die Bergmänner ihre dreckige Kleidung ausziehen. Rubens Aufgabe ist es, die Stadt unter der Stadt mit Strom zu versorgen.
Er habe sich damals in nur zwei Minuten und 30 Sekunden in Auguste verguckt, erinnert er sich. So lange braucht der Korb bis in 1.300 Meter Tiefe, auf die unterste Sohle, an einen Ort, den die wenigsten Menschen je betreten haben. Nach seiner ersten Grubenfahrt kam Ruben nach Hause und sagte: "Vadder, ich möchte nie wieder woanders hin." Seine Lehrer fragten ihn: "Wat willste auf dem Pütt, dat ist doch eh bald zu Ende?" Rubens Vater aber verstand. Er kennt die Kraft der Grube, er arbeitet selbst für die RAG.
Auguste kann unberechenbar sein, ihre schweren Maschinen und Geräte brutal, die Dunkelheit verhängnisvoll. "Wenn du da stehst und dir geht die Lampe kaputt, dann hilft nur eins: sitzen bleiben und warten, bis ein Kumpel dich findet", sagt Ruben. In der Tiefe spielen Nachnamen keine Rolle. Unten gibt es nur Ruben und Ingo und Murat und Ali. Die Abgeschiedenheit schafft Gemeinschaft. Unten ist auch egal, wer an welchen Gott glaubt.
Ruben, der sagt, er sei ein gläubiger Mensch, stellt sich manchmal auf Auguste in eine stille Ecke und betet. Seine Kollegen mit türkischen Wurzeln suchen Beistand bei Allah.
Mit einem Seil zieht Ruben seinen Wäschekorb von der Decke der Kaue, verstaut Helm, Hemd und Hose. Die Kaue ist ein beige gekachelter Umkleideraum, groß wie eine Turnhalle. "Du Fotze" gilt hier als respektable Ansprache. Unter der Dusche schrubben sich die Kumpel gegenseitig den Kohlestaub vom Rücken. Buckeln nennen sie das. "Du siehst ja nicht selber, ob da noch Dreck am Rücken ist", sagt Ruben.
Strom aus Marler Kohle treibt in deutschen Haushalten Waschmaschinen und Kühlschränke an. Sie würden für Energiesicherheit sorgen, sagen die Kumpel. Zuletzt deckte die deutsche Steinkohle noch 17 Prozent des Verbrauchs der Steinkohlekraftwerke des Landes. Die Bundesregierung plant, auf Kohle bei der Stromerzeugung frühestens in 25 Jahren zu verzichten. Künftig muss die gesamte Steinkohle importiert werden. Kritiker des Ausstiegs sagen, Deutschland mache sich zu abhängig von Kohle-Exporteuren wie Russland.
Auguste ist nicht einfach, Ingo Gröger weiß das. Sie kann abstoßend sein, grausam und sterbenslangweilig. So wie an diesem Morgen Anfang Dezember, als in 1.300 Metern Tiefe das Förderband stoppt. Das Band fährt die Kohle durch die kilometerlangen Gänge zum Förderkorb, normalerweise. Wieso es nicht läuft, weiß von seinen Männern niemand so genau. In Ingos Reich gibt es nichts mehr zu tun außer zu warten.
Ingo ist Logistiker. Er ist dafür zuständig, dass die Kohle nach oben, die Männer nach unten und die Geräte an ihren Platz kommen. Ingo ist nicht groß, aber kräftig. 48 Jahre alt ist er und wenn er flucht, übertönt er den Motor der Diesellok, den Lärm der Lüfter und das Rütteln und Schlagen des Korbes auf dem Weg nach unten. Alles ist scheiße, die Tür zum Fahrstuhl, die klemmt, ist scheiße, Manni, der gerade nicht zur Stelle ist, und das Förderband, das nicht läuft, sind natürlich auch scheiße. Das Fluchen ist Ingos Liebeserklärung an ein Leben, das Härte aushält, ja zelebriert.
Mit den Jahren sind es immer weniger Bergleute geworden, die jeder immer mehr Kohle abbauen. Direkt vor Kohle arbeitet heute nur noch ein Dutzend. Die anderen, mehrere Hundert Männer auf jeder Schicht, arbeiten ihnen zu. Sie warten die Geräte, sie fahren Lokomotiven. Sie bedienen Maschinen, die die Kohle waschen, von Gestein trennen, nach Größe sortieren.
Wir hatten Stollen, da konnste nur kriechen. Das ist nichts für jeden. Ingo GrögerIngo hat vor Kohle angefangen, wo sich Walzen mit kreischenden Schneideblättern in den Berg fressen. Auguste ist hässlich dort unten. "Es ist extrem laut, die Maschinen sind heiß, der Berg ist warm, überall ist Staub. Das prasselt alles auf dich ein", sagt er. Direkt am Schacht weht ein Wind wie an einem Hafen, die Luft ist frisch und kühl. Mit jedem Schritt in den Tunnel wird es heißer und stickiger. "Wir hatten Stollen, da konnste nur kriechen. Das ist nichts für jeden." Für Ingo war es nichts.
Er macht jetzt Transport und wurde zum Steiger befördert. Wie die meisten hier unten nimmt Ingo eine Prise Schnupftabak nach der anderen, Marke Jubiläum. Er schnaubt sich die Nase auf den Schienen aus. Seine Männer machen mit und bekommen glasige Augen davon. Nach zwei Stunden Wartezeit jault eine Sirene dreimal auf, das Förderband setzt sich mit einem Ruck in Bewegung. Nach einigen Minuten rauscht Kohle um die Ecke, in handgroßen Brocken.
Es sind die letzten Tonnen Kohle, die das Bergwerk verlassen. Nur in einem Bezirk mit der Nummer 743, acht Kilometer vom Schacht entfernt, wird noch abgebaut. Der Streb ist dort so flach, dass die Bergmänner gebückt arbeiten und Maschinen einsetzen müssen, die die Kohle wie ein großer Käsehobel von der Wand kratzen. Der Berg bei Bezirk 743 ist in Bewegung, der Boden quillt hervor wie ein aufgehender Hefeteig. Besucher werden nicht mehr vorgelassen. Zu gefährlich, sagen die Bergleute.
Michael Voß, 47 Jahre alt, Lagerist unter Tage, sagt, er führe eine lange und eine kürzere Beziehung. Die Kürzere, seit drei Jahren, mit seiner Freundin. Die Lange mit Auguste, seit 23 Jahren. An diesem Morgen im Dezember wird sie enden.
Augustes Tod steht kurz bevor: In der Kantine haben sie schon das Tagesgericht abgeschafft. In der Waschkaue baumeln jede Woche mehr leere Körbe von der Decke.
In einem dieser Körbe hing bis vor Kurzem Michaels Wäschesack; nun verstaut er ihn im Gepäckfach eines Reisebusses. Michael ist ein kleiner Mann, er trägt kurzes, gegeltes Haar und einen Ring im linken Ohr. Der Bus fährt Michael und 25 Kollegen zum Bergwerk Prosper Haniel nach Bottrop. Michaels neue Liebe auf Zeit. Prosper wird nach Auguste die allerletzte Zeche in Deutschland sein; drei Jahre läuft der Betrieb dort noch.
Die Männer im Bus unterhalten sich gedämpft. Die meisten machen ihre zweite oder dritte Zechenschließung mit. Sie sind die Übriggebliebenen, ziehen seit Jahren von Bergwerk zu Bergwerk. Ihre Fahrten zum Arbeitsplatz werden immer länger.
Michael hat auf Auguste angefangen, er wird zum ersten Mal verlegt. Die meiste Zeit im Bus schweigt er; nur der Wangenmuskel, der sich unermüdlich bewegt, verrät seine Anspannung. "Man erzählt sich von den Ratten, die die auf Prosper haben. Wir auf Auguste haben ja nur Mäuse, aber die haben da Ratten. Da muss man aufpassen beim Buttern", sagt er. Buttern nennen die Bergmänner das Frühstück unter Tage. Michael buttert jeden Morgen vier Stullen, zwei mit Käse und zwei mit Salami.
Meine zwölf Jahre alte Tochter würde gerne mal nach unter Tage. Aber man darf erst mit 16 Jahren einfahren. Sie wird die Welt dort unten nicht mehr sehen. Michael VoßMan könnte alle 26 Kumpel im Bus zu Augustes Tod befragen und 26 würden sagen: eine falsche Entscheidung. Dennoch protestiert niemand. Die Zeit, als die Bergmänner eine Menschenkette durch das gesamte Ruhrgebiet bildeten, als sie zur EU-Kommission nach Brüssel reisten, um das Ende der Kohle abzuwenden, ist vorbei. Wut ist in Resignation umgeschlagen. "Die Politik hat eben so entschieden", sagt Michael lapidar.
Keine andere Industrie hatte wohl so lange Zeit, sich auf ihr Ende vorzubereiten: acht Jahre. Der Betriebsrat hat sich zuletzt oft mit der Werksleitung getroffen; geräuschlos organisieren sie Augustes Abwicklung. Betriebsratschef Norbert Maus ist ein mächtiger Mann auf der Zeche, der das Privileg genießt, in seinem Büro noch rauchen zu dürfen. Er sagt: "Bergmänner sind gut ausgebildete Arbeitskräfte. Kein Kumpel wird ins Bergfreie fallen." Ins Bergfreie fallen, so nennen das die Bergmänner: ohne Arbeit dazustehen, nicht mehr gebraucht zu werden.
Ein großer Teil der Bergleute von Auguste Victoria wechselt wie Michael Voß in die Bottroper Zeche, die Ende 2018 schließt. Mehrere Hundert Kumpel werden das Frührentenalter von 49 Jahren bis dahin nicht erreichen und sich einen neuen Job suchen müssen, über Tage. Erst dann zeigt sich, was das Versprechen von Norbert Maus wert ist. Etwa 450 Kollegen werden auf Auguste Victoria noch gebraucht, bis unter Tage aufgeräumt ist.
Von Auguste bleiben 91 Kilometer Schächte unter und 90 Hektar Fläche über Tage. In ihrem Nachlass finden sich 561 Motoren und Getriebe, 4.774 Leuchten, 369 Lüfter und 40 Kilometer Fördergurte. Die verbleibenden Bergleute werden noch Monate damit beschäftigt sein, Walzen und Hobel zu zerlegen und nach oben zu bringen.
Die Kumpel, die Auguste liebten, müssen sie nun zerstören.
Ihr Erbe verwalten Mitarbeiter, Herren in weißen Hemden, die bei der RAG zuständig sind für die Abwicklung ehemaliger Zechengelände. Sie nennen Auguste eine "Brache", die es zu revitalisieren gilt. Schon ist Auguste nur noch eine von vielen. Auf den 90 Hektar Auguste soll ein Industriepark entstehen, Baubeginn in fünf Jahren.
Doch Auguste, die Widerspenstige, könnte den Zeitplan noch vereiteln. Erst jetzt, da ihr Kreislauf stillsteht, können die Nachlassverwalter untersuchen, wie stark die Halden und Sohlen mit giftigen Schmierstoffen verseucht sind, mit denen die Kumpel einst die Maschinen fetteten. Diese Öle dürfen nicht ins Grundwasser sickern und das zu verhindern kann teuer werden und Jahre dauern.
Auguste wird sich nicht so schnell vergessen lassen, noch sehr lange nicht. Ständig kriecht Feuchtigkeit durch ihre Poren und Spalten in die Hohlräume. Nur mächtige Pumpen verhindern, dass unter Tage Seen entstehen und oben ganze Wohnviertel absacken. Die Pumpen werden auch in Jahrhunderten noch pumpen müssen; die Herren in den weißen Hemden sagen: für die Ewigkeit.
Die Stadt Marl verliert durch die Schließung der Zeche 3.000 Arbeitsplätze für Schlosser, Mechatroniker, Industriemechaniker und mehr als 100 Ausbildungsplätze. Der Industriepark wird höchstens 1.000 neue Jobs schaffen. In Marl liegt die Arbeitslosigkeit schon jetzt doppelt so hoch wie im deutschen Durchschnitt. Der Bürgermeister Werner Arndt (SPD) sorgt sich: "Wir brauchen auch weiterhin Ausbildungsplätze für junge Leute, die nicht immer den geraden Weg gelaufen sind."
Ruben Berans Vertrag läuft im September 2016 aus. Wie es weitergeht, weiß er noch nicht. Er sagt: "Über uns Bergmänner wird man nur noch in Geschichtsbüchern lesen können."
Ingo Gröger verlässt Auguste Ende des Jahres. Er sagt: "Wenn ich abkehre, wird kaum noch jemand hier sein, von dem ich mich verabschieden kann."
Michael Voß will auf Prosper weitermachen bis zum Vorruhestand. Er sagt: "Meine zwölf Jahre alte Tochter würde gerne mal nach unter Tage. Aber man darf erst mit 16 Jahren einfahren. Sie wird die Welt dort unten nicht mehr sehen."
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Die Multimedia-Reportage "Auguste muss sterben" ist im Rahmen einer Kooperation zwischen der Henri-Nannen-Journalistenschule und ZEIT ONLINE entstanden.
Idee, Recherche, Texte, Video: Johannes Böhme, Lea Frehse, Luisa Jacobs, Ruben Rehage, Martin Schlak, Sara Schurmann (Teilnehmer des 36. Lehrgangs der Henri-Nannen-Journalistenschule)
Foto und Video: Jakob Schnetz
Bildredaktion: Reinhold Hügerich
Infografik: Sascha Venohr, Paul Blickle
Redigatur: Meike Dülffer
Redaktionelle Koordination: Fabian Mohr
Redaktioneller Hinweis: Für das Video wurde eine kurze Sequenz mit Material der Ruhrkohle AG verwendet; es zeigt Abbauarbeiten unter Tage, die aus Sicherheitsgründen von Journalisten nicht vor Ort gefilmt werden können.