Es ist Sonntagmorgen, halb sieben, noch bevor die ersten Sonnenstrahlen den Mauerpark treffen, erwacht der Markt zum Leben. Ein paar Jogger drehen ihre Runden, Autos beladen mit blauen Ikea-Tüten und Bananenkisten rollen die Bernauer Straße hoch. Drei junge Leute schieben Kleiderständer über den Schotter in Richtung Buden.
„Mit dem Geld, das wir heute verdienen, wollen wir nach Italien fahren", sagt Imme und blinzelt, das zottelige rosa Haar hängt der Mittzwanzigerin ins Gesicht. Eine Flasche Bardolino am Meer gegen den ganzen alten Krempel eintauschen, der sich so ansammelt im Leben - diese romantische Flohmarkt-Idee hat Imme und ihre Freunde heute früh aus dem Bett gelockt. Aus dem Kofferradio singt Ian Curtis „I lost control again". Isi und Luke singen mit und packen aus: Oben hängen die Crop-Shirts, auf den Tischen liegen dicke Winterpullis, alte Levi's und bunte Leggings. Auf dem Ständer an der rechten Seite hängen die Sommerkleider, von Cos, H&M und Topshop, Schickes aus der vorletzten Saison.
Im Laufe des Tages werden heute etwa 40.000 Besucher, Flaschensammler, Künstler und Musiker in den Mauerpark kommen. Hier, wo vor 25 Jahren noch der Todesstreifen zwischen Wedding im Westen und Prenzlauer Berg im Osten verlief, feiern Berliner und Touristen heute jeden Sonntag ein Festival. Karaoke-Fans warten im voll besetzten Amphitheater auf den großen Auftritt, Kinder lernen auf den Riesenschaukeln das Fliegen, Erwachsene sitzen im Gras, trinken Bier und Limonade, grillen, bis das Ordnungsamt was merkt. Im Hintergrund spielen Musiker mit Reggae-Beats und Electro-Swing gegeneinander an.
Es gibt keinen Berlin-Reiseführer, der den Flohmarkt am Mauerpark nicht empfiehlt. Laut dem britischen Stadtmagazin „Time Out" ist er unter den Top-3-Sehenswürdigkeiten in ganz Berlin.
Für viele Händler hängt die Existenz am FlohmarktverkaufImme, Luke und Isi sind private Händler, das kleinste Rädchen im System Mauerpark. Menschen wie Imme mit ihrer bunten Bluse und Nadel und Faden in der Brusttasche, Isi mit ihren selbst gedrehten Zigaretten und Luke mit seinen großen Piercings und dem fröhlichen Lachen, verleihen dem Flohmarkt seinen unbeschwerten Charme, den sympathisch unperfekten Selbermach-Charakter, die das Bild vom Mauerpark prägen - und damit auch das Bild von Berlin.
Mauerpark-Gastronom Engin Basar (links) mit einem Kollegen. Foto: William VederImme und die anderen sind die freundliche Fassade eines knallharten Geschäfts, das sich jeden Sonntag auf dem Boden abspielt, auf dem Imme gerade steht und die letzte Bluse an ihre Bude hängt. Für viele Händler, die seit dem Morgengrauen auf dem Markt stehen, hängt die Existenz an diesem Gelände, ihre Stände sind ihr Lebensunterhalt. Auf den 10.000 Quadratmetern Flohmarkt-Gelände lässt sich im Kleinen beobachten, was im Großen auch die Märkte dieser Welt beschäftigt. Auch hier geht es um die Verteilung von Gütern, darum, ob mehr Freiheit oder mehr Regulierung besser für den Markt ist, und darum, dass manche ein größeres Stück vom Kuchen haben als andere. Aktuell geht die Entwicklung mehr in Richtung Regulierung. Seit einem halben Jahr hat der Flohmarkt am Mauerpark einen neuen Betreiber - und der hat neue Regeln mitgebracht.
Nicht allen Händlern gefällt das. Nicht weit von Immes Stand, den Schotterweg runter, beginnt der Tag auch für Engin Basar. Direkt vor seinem Zelt, einem großen weißen, stehen vier asiatische Mädchen mit einem Rollkoffer. Es ist eine kleine Fläche, kaum zwei mal zwei Meter groß, auf dem Rande seines Grundstücks. Quer darüber läuft eine Baumwurzel. Die Marktleitung hat die Mädchen dort hingeschickt, hier sollen sie ihren Tapezier-Tisch aufbauen dürfen.
„Stopp, hier könnt ihr nicht stehen", ruft Basar. Eilig schiebt er ein paar Fahrräder seines Kollegen auf die freie Fläche. Die Mädchen gucken verständnislos. Sie sprechen kein Deutsch, nur gebrochen Englisch. Engin Basar stapft zu einem Marktleiter, der für die organisatorischen Abläufe auf dem Gelände zuständig ist. Auf dem Gelände sind ständig drei von ihnen unterwegs.
Auf dem Flohmarkt wird viel gestöbert - und genauso gern gefuttert. Foto: William Veder„Hey, was machen die hier?", fragt Basar. „Die können hier nicht stehen, das ist mein Gelände!" Ein Funkgerät rauscht. Der Marktleiter murmelt etwas hinein. Abschätzige Blicke. Wieder Rauschen. Dann nickt der Mann den Mädchen zu: „Come on, I have another place for you."
Engin Basar, 41 Jahre alt, runder Bauch, braune Augen, blau gestreiftes Hemd, bleibt zurück, erleichtert, dass er seinen Platz verteidigen konnte. „Da hat er wieder seine Kampfhunde vorgeschickt", sagt Basar und meint die Marktleiter und deren neuen Chef. Basars Platz, das sind 240 Quadratmeter, auf denen er in einem großen weißen Zelt ein Familienrestaurant führt: „Mamas Food Manufaktur".
Geboren ist Basar am schwarzen Meer in der Türkei. „Wir sind so was wie die türkischen Ostfriesen", sagt Basar lachend. Seit dem Grundschulalter lebt er mit seiner Familie in Berlin, seit neun Jahren steht er hier auf dem Markt. Anfangs haben sie nur Säfte verkauft, dann kamen die Obstsalate, später auch warme Speisen. Heute köcheln in schweren schwarzen Töpfen würzige Hackfleischbällchen, in einer Sauce aus Paprika und Tomaten. Nur Sardinen, die türkisch-ostfriesische Nationalspeise, verkaufen sie nicht - die Gesundheitsauflagen für Fisch sind besonders hoch.