von Luisa Houben und Magdalena Tröndle
Der 17-jährige Derrick will 2020 zu den Sommerspielen nach Tokio. Dafür riskiert der Velokurier in der chaotischen ugandischen Hauptstadt Kampala täglich sein Leben.
Einmal war es richtig knapp für Derrick. Da hätte ihn die Strasse fast das Leben gekostet. Es war im November vergangenen Jahres. Ein schwüler und gewittriger Tag, an dem das Leben in Uganda besonders anstrengt. Der wichtigste Verkehrsknotenpunkt im Zentrum der Hauptstadt Kampala war so überfüllt wie immer in den frühen Abendstunden.
Derrick sass an diesem Tag nicht auf seinem Rennrad, sondern ausnahmsweise auf einem Lastenvelo, vor dem Lenker eine Ladung heisser Hackbällchen. Die Lieferung sollte zur niederländischen Botschaft. "Das Abendessen für die Diplomaten", erzählt er. Normalerweise kein Problem für Derrick, doch an diesem Tag war er müde und unkonzentriert. Seit zwei Tagen war er ununterbrochen für Auslieferungen unterwegs. 156 Einladungskarten hatten er und sein Team in ganz Kampala verteilt. "Der bisher grösste und bestbezahlte Auftrag", sagt er.
Es war nur eine Sekunde der Unaufmerksamkeit, ein zu langes Zögern im falschen Moment. Auf der Kreuzung drückte ihn von rechts ein übervoller Bus zur Seite. Auf der linken Seite stand ein Motorradtaxi, das sich nicht wegbewegen konnte. Dazwischen: hastende Fussgänger, eine Frau mit einem Baby auf dem Rücken, ein Mann mit einer Ziege unter dem Arm. Irgendwo in der Mitte der Kreuzung ein Polizist mit Trillerpfeife, unbeachtet und übertönt vom Hupen und vom Motorenrattern, vom Lärm der Kreuzung.
Dann verlor Derrick das Gleichgewicht. Mit dem Kopf kippte er gegen die Scheibe des Taxibusses, doch er fiel nicht richtig. Seine Schuhe blieben in den Klickpedalen stecken und brachen ihm die Füsse. Zwei Monate verbrachte er danach im Bett.
Ein Exot im StadtbildIn Kampala, in der nur wenige ein Velo besitzen und sich noch weniger auf den Sattel trauen, gibt es einen Velokurier. Neun feste Mitarbeiter arbeiten bei den Kampala Cyclists. Der 17-jährige Derrick ist einer von ihnen. Auf Abruf liefert das Team frisches Essen und Getränke, erledigt Einkäufe, überbringt Dokumente, liefert Ersatzteile. Die drahtigen jungen Männer in ihren neongelben Trikots sind echte Exoten im Stadtbild.
Nach gewissen Startschwierigkeiten hat sich der Kurierdienst inzwischen etabliert. Immer öfter wird er von Botschaften und NGO gebucht. Meistens geht es um spontane Lieferungen. Einmal war die deutsche Botschaft spät dran mit ihren Einladungen zu den Feierlichkeiten des Nationalfeiertages. "In Kampala, wo es keine festen Adressen und Briefkästen gibt, waren wir für die Hilfe des Teams, das sich hier gut auskennt, sehr dankbar", sagt eine Mitarbeiterin der Vertretung.
Das Risiko, das die Fahrer auf sich nehmen, ist allerdings beträchtlich. Die Wahrscheinlichkeit, auf den Strassen Ugandas ums Leben zu kommen, ist statistisch gesehen mindestens achtmal so hoch wie in der Schweiz. Allein in Kampala, wo der Verkehr so dicht ist wie nirgends sonst im Land, sind in einem einzigen Jahr 536 Personen im Verkehr gestorben - mehr als doppelt so viele wie in der gesamten Schweiz. Die Gründe dafür sind vielfältig. Ein ausgebautes Schienennetz gibt es nicht, stattdessen quetschen sich die Menschen in kleine Taxibusse oder schlängeln sich auf Motorradtaxis durch den dichten Verkehr. Die Strassen sind fast alle unbefestigt, es gibt kaum Strassenschilder oder Ampeln. Derrick schreckt das nicht ab. "Wovor soll ich Angst haben? Ich kenne es nicht anders", sagt er unbeschwert.
Velokurier und NachwuchshoffnungEin Sonntagmorgen im August. In der Nacht hat es geregnet, es ist angenehm kühl, der Himmel ist verhangen. Im Stadtteil Kololo versammeln sich an einer kleinen Tankstelle Radsportler aus ganz Kampala. Hier, im Diplomatenviertel der Stadt, sind die Strassen geteert.
Viele der Sportler sind mit dem Motorradtaxi zum Treffpunkt gekommen, ihr Rennvelo unter den Arm geklemmt. Die Schlaglöcher der sandigen Strassen sind nichts für die schmalen Laufräder. Aus einer kleinen Kirche gegenüber der Tankstelle wehen Gesang und Trommelklänge herüber. Noch fahren nur wenige Autos vorbei. "Perfekte Bedingungen für ein Trainingsrennen", sagt Derrick, der gerade angekommen ist. Wie immer trägt er sein neongelbes Shirt. Doch heute ist er nicht Kurier, sondern Rennvelofahrer.
Die Kampala Cyclists sind nicht nur ein Kurierdienst, sondern auch ein ambitioniertes Rennvelo-Team. Derrick ist die Nachwuchshoffnung der Equipe. "Er klettert die Berge hoch wie Alberto Contador", sagt sein Kumpel Henry, der auch am Rennen teilnimmt und sich gerade an der Startlinie aufstellt. Bei den ugandischen Meisterschaften wurde Derrick Vierter, seitdem trainiert er in jeder freien Minute. Sein Trainer Yusufu sagt: "All unsere Anstrengung stecken wir in die Vorbereitung auf die Olympischen Spiele 2020 in Tokio. Wenn der Plan aufgeht, wird Derrick dabei sein."
Hier wird noch schnell ein Reifen aufgepumpt, dort verteilt eine Frau Bananen an die Sportler. Fünfundzwanzig Fahrer gehen gleich an den Start, sechs Kampala Cyclists sind unter ihnen. Die meisten gehören zu einem Veloklub, von denen es in Kampala drei gibt. Nicht alle haben ein Rennvelo, manche fahren das Rennen mit ihrem Mountainbike. Am Strassenrand hat sich eine kleine Fangemeinde versammelt. Ein kleiner Knabe trägt einen grossen Pokal, eingewickelt in einen grünen Plasticsack. "Der ist für den Sieger", sagt er.
Radsport hat einen geringen Stellenwert in Uganda. Die Trainingsbedingungen und die medizinische Unterstützung sind schlecht, dem Radsportverband fehlt es an Geld. "Es gibt keine Radsportkultur in Uganda", sagt Jacques Helderop. Der niederländische Velofahrer und Trainer unterstützt die Kampala Cyclists mit Trainingsplänen. "Sie arbeiten hart, und ich bin fasziniert, wie sie an ihrem Traum festhalten." Olympia hält er allerdings für unrealistisch.
Für Derrick ist der Veloklub Arbeit und Hobby in einem. Dank dem Kurierdienst kann er sich Essen und Kleidung kaufen, zugleich sind die Kurierfahrten für ihn ein gutes Training. Gegründet wurde der Klub vor ein paar Jahren von Derricks Trainer Yusufu. Er wollte die Kinder in seinem Quartier für den Sport begeistern und ihnen gleichzeitig eine Perspektive bieten.
Häufige technische ProblemeIn Uganda wird es früh dunkel. Sobald die Sonne hinter den sieben Hügeln Kampalas verschwunden ist, leeren sich die Strassen. Die Menschen hasten nach Hause. "Mit der Dunkelheit kommt der Teufel", sagt ein afrikanisches Sprichwort. Das gilt vor allem für die Viertel, in denen oft der Strom ausfällt. Das Klubhaus der Kampala Cyclists, das sowohl Vereinsheim als auch Kurierzentrale ist, liegt in einem solchen Viertel. Zwischen kleinen Shops in Bretterverschlägen steht die Garage, in der die Rennfahrer ihre Fahrräder aufbewahren. Derrick schläft hier, um sie zu bewachen.
Wenn er abends in dem Bretterverschlag liegt, hat er viel Zeit zum Nachdenken. Dann träumt er von Olympia, oder er denkt an sein Dorf, aus dem er als Kind weggezogen ist, um in der Stadt Arbeit zu finden. "Zu Hause bewundern sie mich, weil ich die Möglichkeit habe, viel herumzukommen. Sie setzen ihre Hoffnung in mich und sehen mich als so etwas wie einen Diplomaten", sagt Derrick. Nach seinem Erfolg bei den ugandischen Meisterschaften trugen ihn seine Freunde durch die Strassen.
Doch es ist schwer, erfolgreich zu sein. Beim Trainingsrennen in Kololo schafft es Derrick nicht ins Ziel, obwohl er der Favorit war. Seine Gangschaltung funktionierte schon in der ersten Runde nicht mehr optimal. "Die Kassette ist total abgenutzt", erklärt er, "und ein Ersatz ist teuer und schwer zu bekommen." Von den fünfundzwanzig Rennfahrern scheiden wegen technischer Probleme zehn aus. Entmutigen lassen sich davon jedoch die wenigsten. Derrick sagt: "Das ist normal, davon lasse ich mich nicht aus der Ruhe bringen." Bis Tokio 2020 wird es noch einige Trainingsrennen geben. Derrick wird bei jedem dabei sein.