1 subscription and 2 subscribers
Article

Gefährliche Verlierer

Der Täter von Halle radikalisierte sich in anonymen Internetforen. Hier stehen niedliche Anime-Figuren neben Holocaust-Leugnung. Was ist das für eine Welt, in der Stephan B. sich aufhielt, und wer war dort mit ihm unterwegs?



Der Forenbeitrag, der die Morde in Halle ankündigte, klang unaufgeregt: "Für diejenigen von euch, die in nicht so spaßigen Ländern leben", schrieb ein User namens um 11.57 Uhr in ein englischsprachiges Internetforum namens meguca.org, "das könnte euch interessieren".

Es folgte ein kurzer Text über die Vor- und Nachteile verschiedener selbst gebauter Waffen. Ein Link zu antisemitischen Dokumenten. Und ein Link zu einem Livestream, in dem Stephan B. in der darauffolgenden halben Stunde übertrug, wie er eine Synagoge angriff und zwei Menschen ermordete. Fünf Personen sahen den Stream an. "Naja, ein Flüchtlings-Willkommenheißer weniger, nicht schlecht", schrieb einer über einen der Morde. Niemand von ihnen rief die Polizei.

B.s Fall passt ins Muster einer langen Liste von Terroristen, die intensiv sogenannte Chan-Foren nutzten und Anschläge begingen: zuletzt in El Paso, Texas, und in Christchurch, Neuseeland. Auch David S., der 2016 in München neun Menschen tötete und in einer rechtsradikalen Gedankenwelt lebte, ist in einem ähnlichen Forum unterwegs gewesen.

Für Außenstehende wirken diese Foren auf den ersten Blick bizarr. Hier stehen Holocaust-Relativierungen neben Bildern von niedlich gezeichneten Comicfiguren aus japanischen Anime-Serien. Im Meguca-Forum, das Stephan B. für seinen Livestream nutzte, diskutierten User am Mittwochmorgen zunächst darüber, wie man die Armeen ihrer Länder unterwandern könne. Dann tauschten sie PDFs mit verschwörungstheoretischem Gedankengut aus. Sie verlinkten Gesänge der libanesischen Hisbollah-Miliz und das tonmalerische Stück Die Moldau des tschechischen Komponisten Smetana. Einige der Diskutanten scheinen aus der Schweiz, andere aus den USA, Polen und Frankreich zu kommen. Und sie scheinen sich schon länger zu kennen, eine internationale rechtsextreme Clique, in der man sich mit Spitznamen wie froglip, rakete, tesla, raiden und strasser anspricht.

Ob Stephan B. sich hinter einem dieser Usernamen verbarg, ob er mitdiskutierte, bevor er sich zum Töten aufmachte, lässt sich nicht rekonstruieren. Dass er seine Tat aber hier verbreitete, deutet darauf hin, dass er andere Nutzer kannte. Auch dass er in seinem Video dasselbe Vokabular verwendete, zeigt, wie viel Zeit er in diesen Räumen verbracht haben muss.

Das erste große Forum dieser Art entsteht im Oktober 2003, als ein 15-Jähriger namens Christopher Poole den Code eines japanischen Forums kopiert und eine Seite online stellt, die das Internet verändern wird: 4chan ist ein Tummelplatz für Liebhaber von japanischen Anime-Comics und Computerspielen. Die Nutzer surfen und schreiben grundsätzlich anonym, moderiert wird kaum, der Umgangston ist rau.

Man muss sich diesen Diskursraum wie einen Ort vorstellen, an dem sich Unbekannte im Dunkeln treffen: Alle können schreien, was sie wollen. Niemandem muss etwas peinlich sein. Und im Gegensatz zu den großen, hellen, kommerziellen Räumen wie Twitter und Facebook gibt es so gut wie nie jemanden, der einen Platzverweis erteilt.

Auf 4chan werden brutale Witze gemacht, Nutzer verabreden sich, um andere Foren zu "überfallen", Neuankömmlinge passen sich diesem Klima an. Es sind vor allem junge weiße Männer, die bei 4chan unterwegs sind.

2014 radikalisiert sich diese Gemeinschaft weiter. Unter dem Stichwort #GamerGate starten Nutzer eine Belästigungskampagne gegen eine Computerspiel-Kritikerin und zwei Spiele-Entwicklerinnen. Sie fürchten, dass die Frauen feministische Prinzipien in Computerspiele einführen und ihnen so eine ihrer liebsten Machtfantasien nehmen: sexualisierte weibliche Spielfiguren.


Die Nutzer fluten das Netz mit Vergewaltigungsdrohungen. Irgendwann wird das auch 4chan-Betreiber Poole zu viel: Ab September 2016 löscht er jeden Beitrag zum Thema #GamerGate. Viele Nutzer wandern daraufhin in ein noch radikaleres Forum ab – 8chan wird der nächste Ort für all jene, die die Frauen weiter belästigen wollen. Auch Judenhass, Rassismus und Kinderpornografie werden dort toleriert. "Die dunkelsten Ecken des Internets" steht über der Seite, die monatlich 15 Millionen Besucher hat – man ist stolz auf seine Abseitigkeit.

Immer wieder zeigen sich bei rechten Terroranschlägen Verbindungen der Täter in die Forenwelt: 2014 tötet ein 22-jähriger 4chan-Nutzer sechs Menschen in Isla Vista, Kalifornien. Ein 26-jähriger Attentäter, der auf 4chan und 8chan unterwegs war, nimmt 2015 in Oregon neun Menschen das Leben. Im Jahr 2019 verbreiten gleich drei Rechtsterroristen ihre Propaganda auf 8chan, bevor sie losziehen, um zu morden: in Christchurch, Neuseeland, in Poway, Kalifornien, und in El Paso, Texas. Der letzte Anschlag ist dem Netzbetreiber zu viel. Am 5. August 2019, zwei Tage nach El Paso, geht 8chan offline.

Seit dem Ende der Seite scheinen die ehemaligen Nutzer nun durchs Netz zu irren, auf der Suche nach Räumen, in denen ihre Hassrede noch toleriert wird. "Erlaubt dieses schwule Forum frogposting? Ich wurde dafür auf Schwul-chan gesperrt", schreibt im Oktober ein Nutzer in einem Forum. Mit "Frogposting" sind in der Szene antisemitische und rassistische Beiträge gemeint.

Das Meguca-Forum, in dem Stephan B. zuletzt schrieb, ist so ein Raum, der "Frogposting" zulässt. Ein kaum beobachteter Ort, an dem Stephan B. und seine Bekannten ihre rechtsextreme Kultur fortführen konnten.

Die Meguca-Nutzer sind in anderen Foren als "Neets" bekannt, eine Abkürzung der englischen Worte für "nicht in Ausbildung, Anstellung oder Training". Auch Stephan B. benutzt diese Bezeichnung. Ein Bild von sich, das er ins Netz stellt, hat, laut Spiegel-Informationen, den Dateinamen "the face of a neet". Und im Livestream hört man ihn sagen: "Einmal Verlierer, immer Verlierer."

Der Autor Dale Beran beobachtet diese Foren seit Jahren, er hat ein Buch über ihre Entwicklung geschrieben. "In den Politikforen treffen sich viele einsame, frustrierte junge Männer, die sich über ihr Verlierertum verbünden", sagt er. "Um dieses Gemeinschaftsgefühl aufrechtzuerhalten, ermutigen sie sich gegenseitig, sich zu isolieren und ihr Leben nur noch in digitalen Fantasiewelten zu verbringen."

Antisemitismus, Rassismus und Frauenhass, sagt er, seien nicht in den Foren angelegt. Eine antisemitische Kultur hat sich dort erst gebildet. "Viele männliche Nutzer in diesen Foren können ihre eigenen Männlichkeitsvorstellungen nicht erfüllen, etwa weil sie sexuell und wirtschaftlich nicht erfolgreich sind", sagt Beran. "Statt bestimmte Vorstellungen zu hinterfragen, schreiben einige dann die Schuld für ihre Misere Juden, Muslimen und Frauen zu."

Auch die sogenannte Incel-Kultur sei ausgeprägt in den Foren. Incel ist die Abkürzung für involuntary celibacy, unfreiwilliger Zölibat. Die Mitglieder dieser Subkultur beschweren sich über mangelnde sexuelle Kontakte, von denen sie glauben, dass sie ihnen zustehen. Die Schuld suchen sie bei Frauen. Im Meguca-Forum gibt es auch Männer, die eine sexuelle Vorliebe für Anime-Mädchen haben und "normale" Frauen abwerten. In einem von Stephan B.s Pamphleten findet man das Bild eines Anime-Mädchens mit kurzem Rock, dazu die wirre Aussage: "Werde heute Techno-Barbar und erhalte ein kostenloses Katzenmädchen." Und weiter: "Du musst mindestens einen Juden töten, um dich zu qualifizieren. (...) Sie wird immer loyal sein, also behandle sie gut."

Natürlich glaubten Menschen wie Stephan B. nicht wirklich, dass ihnen ein antisemitischer Mord eine Anime-Frau verschaffe, sagt Beran. "Aber diese infantilen, regressiven Fantasien sind das, woran sich Chan-Terroristen bis zuletzt festhalten."

Wie abgestumpft der tägliche Konsum solcher Fantasien und Botschaften machen kann, sieht man daran, wie Stephan B.s mutmaßliche Forenbekanntschaften auf dessen Morde reagierten. Einer zeigte sich irritiert: "Was passiert? Mir ist schwindelig und ich bin verwirrt." Danach aber schrieben die Nutzer darüber, dass man besser trainieren müsse. Dass es eine "großartige Idee" sei, Juden zu erschießen, dass B. sie aber schlecht ausgeführt habe. Vor allem sorgten sie sich darum, ob ihr Forum jetzt schließen müsse. "Jemand soll die Nachrichten beobachten. Wenn diese Seite erwähnt wird, ziehe ich den Stecker", schrieb einer, vermutlich der Administrator der Seite.

Das ist nun passiert. Seit Samstag, 12. Oktober, ist Meguca vom Netz. Es wird ganz sicher Nachfolger haben.




Original