Die Ajami-Schrifttradition wurden lange von der Wissenschaft vergessen. Ihr Fund könnte das Zerrbild der angeblich schriftlosen Kulturen in Afrika brechen.
Bei vielen Familien in Afrika liegen Dokumente, die wie Arabisch aussehen. Es sind aber Texte in afrikanischen Sprachen, die arabische Buchstaben benutzen. Auf sie hat es der Linguist Fallou Ngom abgesehen. Die Ajami-Schrifttradition wurden lange von der Wissenschaft vergessen.
Mit einem Zufall fing alles an
Dass Fallou Ngom sich mit der Schrifttradition Ajami beschäftigt, verdankt er einem Zufall. Der senegalesische Linguist lebte schon seit 1996 Jahre in den USA, als ihn seine Vergangenheit einholte. Er vergaß eines Abends im Jahr 2004, das Fenster seines Arbeitszimmers zu schließen. Am nächsten Morgen hatte der Wind einige Papiere von den Regalen geweht, die aus dem Nachlass seines Vaters, einem Schneider aus dem Südsenegal, stammten. "Da war ein Dokument, das er geschrieben hatte. Ein Schuldschein. Es sah aus wie Arabisch. Ich konnte es verstehen, weil ich Arabisch in der Koranschule gelernt habe, aber die Worte, das war kein Arabisch. Das war Mandinka", erzählt Ngom. Irritiert schaute er sich den Nachlass des Vaters, den er aus seiner Heimatregion der Casamance mitgebracht hatte, genauer an. "Da sind 900 Seiten Aufzeichnungen von ihm. Und ich dachte immer, er wäre Analphabet", sagt der 47-jährige Ngom und wischt sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Sogar ein Tagebuch des Vaters habe er gefunden, wo er die Geburtsdaten seiner Kinder eingetragen hatte.
Afrikanische Sprachen in arabischen Schriftzeichen
Mandinka ist eine Sprache, die von rund 1,3 Millionen Menschen vor allem im südlichen Senegal und den Nachbarländern Gambia, Guinea und Guinea-Bissau gesprochen wird. Mit der Ausbreitung des Islam in Westafrika und der Kenntnis des Koran begannen die Menschen ab dem 11. Jahrhundert, ihre Muttersprachen mit arabischen Buchstaben zu schreiben. Viele Familien in Westafrika haben private Archive, wie Ngom erklärt. Er ist Direktor des Afrika-Studien-Centers an der Boston University. Es seien bei Weitem nicht nur religiöse Texte, sondern auch Erzählungen, Gedichte, medizinische Ratgeber und vieles mehr. Oft gebe es sowohl rein arabische Texte als auch Ajami-Texte oder solche, in denen beides nebeneinander stehe. Man müsse die Schriften in ihrem engen kulturellen Zusammenhang verstehen, sagt Ngom. Der Ausdruck "Ajami" kommt aus dem Arabischen und bezog sich ursprünglich auf "unreines", fremdes Arabisch. Seit dem 21. Jahrhundert werden damit in Arabischen Buchstaben geschriebene Texte verschiedenster Sprachen bezeichnet. Dazu gehören auch Dokumente des muslimischen Spanien (al-Andalus).
Zusammenarbeit mit älteren Gelehrten
Zurzeit reist Ngom mit einem kleinen Team um die Stadt Sédhiou in der Casamance herum, um so viele Mandinka-Ajami-Dokumente wie möglich vor Ort zu digitalisieren. Sie wandern später in eine wissenschaftliche Online-Bibliothek. Die begehrten Texte verstecken sich in den regionaltypischen bescheidenen Backsteinhäusern mit Wellblechdächern in der tropischen Casamance, in der Mango- und Affenbrotbäume auch die Städte begrünen. "Wir müssen Vertrauen aufbauen, damit wir Zugang zu den Dokumenten bekommen", sagt Ngom. "Niemand hat den Menschen je zuvor gesagt, dass das was sie tun, wichtig ist." Deshalb arbeitet Ngom immer mit einer Vertrauensperson der lokalen Gemeinschaften zusammen, in der Regel einem älteren Gelehrten. Für das Casamance-Projekt, das von der British Library gefördert wird, ist das Ibrahima Yaffa, der sowohl die westlich-französische als auch die westafrikanisch-muslimische intellektuelle Tradition kennt. Wenn der Kontakt glückt, öffnen sich Schubladen und verstaubte Koffer und geben Konvolute von Dokumenten frei.
Schmähgedicht gegen Hitler unter den Fundstücken
Weil niemand die 14.000 Seiten sofort lesen kann, die aus mehr als 70 Privatarchiven in der Casamance stammen, nehmen die Forscher kurze Erklärvideos mit den Besitzern auf. Zu den kuriosesten Funden gehört ein Schmähgedicht von 1942, das den Tod von Adolf Hitler - im Text geschrieben als Ikileer - herbeiführen sollte. Der Koranlehrer Mamadou Cissé schrieb es in Mandinke-Ajami im regional verbreiteten Glauben an die Macht der Worte.
"Die Geschichte Afrikas ist unvollständig ohne die Ajami-Quellen", glaubt Ngom, der Professor. Einerseits werden ergänzende Quellen zu geschichtlichen Ereignissen zugänglich. Andererseits geht es aber um die intellektuelle Geschichte des Kontinents selbst. "Es bedeutet, dass nicht erst der Kolonialismus eine Alphabetisierung gebracht hat." Wie groß die Bedeutung der Ajami-Quellen tatsächlich ist, wird erst die Forschung in den nächsten Jahren zeigen können.
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