Fast jedes dritte Kind in Berlin lebt von Hartz IV - mit etwa vier Euro täglich fürs Essen. Wer mehr für seine Kinder will, muss sich durch einen Bürokratie-Dschungel kämpfen. Das kostet Zeit, die vor allem Alleinerziehende nicht haben. Von Maike Verlaat und Lucia Heisterkamp
Wenn er groß ist, möchte Alexander Journalist werden. Der Zwölfjährige ist in Marzahn-Hellersdorf aufgewachsen, tief im Osten Berlins, zwischen Einkaufszentren und Plattenbauten. Er hat eine Schwester und zwei Brüder, einer davon mit einem anderen Vater. Seine Mutter ist alleinerziehend und arbeitslos. Für sich und ihre Kinder bekommt sie die Grundsicherung, Arbeitslosengeld II, genannt Hartz IV. Viel ist das nicht: Für Alexanders Mahlzeiten dürfte sie nach dem Regelsatz 4 Euro am Tag ausgeben, in Berlin bekommt man dafür ungefähr eine Portion Pommes, eine Banane und eine Flasche Wasser.
Alexander zählt zu dem knappen Drittel aller Kinder in Berlin, die armutsgefährdet sind. Der Junge mit strohblondem Haar und breitem Lächeln hungert nicht, ihm fehlt kein Dach über den Kopf, aber Dinge die für andere Kinder in seinem Alter selbstverständlich sind, bleiben dem Zwölfjährigen verwehrt: ins Kino gehen, in den Urlaub fahren, Musikunterricht nehmen.
Im weltweiten Vergleich mag das so wenig gar nicht sein - im Vergleich zum Durchschnitt in Deutschland schon. Relative Armut nennt man es, wenn das Nettoeinkommen eines Haushalts unter 60 Prozent des Durchschnittseinkommens liegt oder Sozialleistungen wie Hartz IV, Sozialhilfe oder Leistungen aus dem Asylbewerberleistungsgesetz bezogen werden. In Berlin gibt es aktuell 167.137 Kinder, die in sogenannten Bedarfsgemeinschaften leben, also Haushalten, die Hartz IV beziehen. Damit steht die Hauptstadt an zweiter Stelle hinter Bremen.
Wie in jeder Stadt gibt es Bezirke, in denen die Armutsquote besonders hoch ist. Meist sind das jene Viertel, in denen besonders viele Arbeitslose und Menschen mit Migrationshintergrund leben. Die "Brennpunkte" befinden sich im Herzen der Stadt: Mitte und Neukölln. In Alexanders Kiez in Marzahn-Hellersdorf leben 30,5 Prozent der Kinder von Hartz IV.
Aber auch innerhalb dieser "Brennpunkt"-Bezirke gibt es deutliche Unterschiede. So leben im Ortsteil Gesundbrunnen, der zum Bezirk Mitte gehört, mit 62,4 Prozent mehr als die Hälfte der Kinder in Hartz-IV-Haushalten, während es im eigentlichen Ortsteil Mitte nur 13,9 Prozent sind. Stark und wenig betroffene Ortsteile liegen also oft direkt nebeneinander.
Alexanders Mutter, eine Frau mit schulterlangem blonden Haar, engagiert sich ehrenamtlich beim Arbeiter-Samariter-Bund in ihrer Nachbarschaft. Sie hilft anderen, die in finanziellen Notlagen stecken. Geld gibt es dafür nicht, aber wenigstens kommt sie mal raus, unter Leute, sagt sie. Für Alleinerziehende in sozialen Brennpunkten ist das Risiko, arm zu werden, besonders hoch: Mehr als ein Drittel aller Hartz-IV-Haushalte mit Kindern in Berlin sind alleinerziehend - und nirgendwo gibt es so viele Alleinerziehende wie in Marzahn-Hellersdorf.
Seit er drei ist, verbringt Alexander seine Freizeit im Kinderhilfswerk "Arche", das nicht weit von seinem Zuhause liegt. Er kommt, weil er hier andere Kinder trifft, mit ihnen Fußball spielen oder seine Hausaufgaben machen kann. Jeden Mittag gibt es ein warmes Essen. Auch seine kleine, aufgeweckte Schwester und der ältere Bruder verbringen Zeit in der Arche. "Ich mag die friedliche Atmosphäre hier", sagt Alexander, der auf einer Bank in der Sonne sitzt, während Kinder um ihn herum mit Inlineskates über den Hof jagen. Das sei anders als in seiner Schule, wo es regelmäßig Stress gäbe.
Denn wer in einem armen Viertel aufwächst, der hat gewöhnlich keine Aussichten darauf, eine gute Schule zu besuchen. Eine Studie des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) zeigt, dass die Qualität von Schulen in sozialen Brennpunkten messbar schlechter ist als in Vierteln, wo kaum arme Kinder leben: Es gibt weniger LehrerInnen, der Unterricht fällt häufiger aus. Nina Ohlmeier vom Deutschen Kinderhilfswerk spricht davon, dass sich Armut durch schlechte Bildungsschancen vererbt: Wer in einem sozialen Brennpunkt aufwächst, besucht auch keine gute Schule, erreicht keinen guten Abschluss und hat später deutlich weniger Chancen auf einen gut bezahlten Job.
Wenn Alexander nicht in der Kinderarche ist, dann geht er gerne zum Judo in einen Sportverein. Weil das mit dem Geld vom Jobcenter nicht drin wäre, beantragt seine Mutter Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket. Das wurde 2010 eingeführt, um Kindern zusätzliche Mittel für Schulausflüge, Klassenfahrten oder Sportkurse bereitzustellen. Nur: Die Beantragung ist mit viel Aufwand verbunden. Für jede einzelne Leistung muss ein gesonderter Antrag gestellt und zum Teil bei unterschiedlichen Stellen vorgelegt werden. Alexanders Mutter hat Glück, denn ein Bekannter von ihr hilft ihr beim Ausfüllen der Formulare. "Man muss sich schon mit Paragraphen auskennen, um da durchzublicken", sagt die Alleinerziehende.
Auch Nina Ohlmeier vom Kinderhilfswerk kritisiert: Die Beantragung des Bildungs- und Teilhabepakets (BuT) sei zu kompliziert, viele Familien wüssten gar nicht, dass es die Sonderleistungen gibt oder scheiterten am "Wirrwarr" der bürokratischen Hürden.
Dass das BuT viele Familien nicht erreicht, zeigen die Jobcenter-Statistiken. In den meisten Bezirken beantragten im letzten Jahr weniger als die Hälfte aller Familien auch nur eine Leistung aus dem Paket. Der Etat wird nicht ausgeschöpft, gleichzeitig schlagen die Verwaltungskosten mit Millionen zu Buche.
InterviewAlexanders Mutter kämpft sich durch den Bürokratie-Dschungel des Jobcenters, damit er auch ohne Geld das machen kann, was ihm Freude bereitet. Stolz erzählt sie, dass ihr Sohn auch schon Kinderreporter im Bundestag war. Und damit seinem Traum, ein Journalist zu werden, etwas näher gekommen ist. Selbstverständlich sei es nicht, dass Eltern sich so für ihre Kinder einsetzen, meint Bernd Siggelkow, Gründer des Kinderhilfswerks Arche. Denn neben der finanziellen Armut gibt es auch eine emotionale Armut: Eltern, die sich nicht um ihre Kinder kümmern, sie den ganzen Tag vor dem Fernseher sitzen lassen, nicht für sie kochen. Armut sei nicht immer nur ein Geldproblem, sagt Siggelkow. Das gelte auch andersherum: Nicht alle Kinder, die Hartz IV bekämen, nähmen sich auch als arm wahr. Alexander jedenfalls sieht alles andere als traurig aus, wenn er von seinem Alltag, vom Judo und vom Bundestag erzählt. Er sagt: "Ich habe zwar nicht viel Geld, aber ich bin nicht arm."
Ein Projekt der Volontäre der Evangelischen Journalistenschule Berlin Armut in Berlin - die Beiträge zum ThemaBeitrag von Maike Verlaat und Lucia Heisterkamp (EJS)