Woran liegt es, dass es so wenige Arbeiterkinder vom Dorf an Eliteunis oder in Vorstände schaffen – geschweige denn selbst etwas gründen?
Wir glauben noch immer an den Mythos, dass diejenigen, die hart arbeiten, am Ende auch am erfolgreichsten sind. Dieses Leistungsprinzip haben wir verinnerlicht. Dabei leben wir in einer Gesellschaft mit großer Bildungsungerechtigkeit. Kinder aus Arbeiterfamilien, bei denen kein Elternteil studiert hat, studieren auch wahrscheinlich selbst nicht. Bei Kindern von Eltern, die studiert haben, ist das anders: Sie studieren mit einer viel höheren Wahrscheinlichkeit. Wenn wir uns den Beginn des Lebens wie eine Startlinie vorstellen, starten manche Menschen aber zehn Kilometer davor und andere sind schon abgehängt und tragen zusätzliche Gewichte an den Beinen.
Was bedeutet das konkret?
Studien zeigen, dass Armut und die Sorge darum, wie man jeden Monat finanziell überleben kann, Einfluss auf den IQ haben und darauf, wie Menschen ihr Leben gestalten, welche Möglichkeiten sie wahrnehmen und welche nicht. So werden Ressourcen und Macht immer wieder an dieselben Menschen weitergegeben und das Klassensystem gestärkt. Wir müssen deswegen genau hinschauen: Welchen Anteil haben äußere Faktoren, ist der Erfolg einer Person wirklich nur dem zu verdanken, was sie jahrelang getan hat – oder spielen andere Faktoren mit rein? Ist zum Beispiel das Elternhaus sehr wohlhabend, gab es Nachhilfeunterricht und in den Sommerferien Sprachkurse statt Fabrikarbeit?
Wie bist du aufgewachsen?
Gut behütet in einem winzigen 80-Einwohner*innen-Dorf, in einer liebevollen, warmen, herzlichen und fürsorglichen Familie. Das ist in unserer Gesellschaft nicht selbstverständlich, sondern ein Privileg. Gleichzeitig ist es eine Arbeiterfamilie, meine Großeltern haben einen Bauernhof nebenan. Ein Blick in die Statistiken dazu, wer wie welche Karrierewege einschlägt, zeigt, dass es nicht normal ist, den Weg zu nehmen, den ich gegangen bin.
Wie bist du dann so erfolgreich geworden?
Mit Anfang 20 hatte ich überhaupt keine Ahnung, was eine Diplomatin ist. Studieren schien nicht relevant für meinen Lebensweg. In meiner Familie war vor mir niemand an der Uni. Es waren andere Menschen, die mich dazu ermutigt haben, mich bei Unis in London oder in Oxford zu bewerben, die für mich wirklich niemals infrage gekommen wären. Sie haben mich immer wieder bestärkt, weil ich in der Schule sehr gut war. Ich war fleißig und habe hart gearbeitet. So kannte ich das; bei uns zu Hause wurde immer schon sehr viel gearbeitet. Meine Sommerferien habe ich in Fabriken, bei Siemens und der Deutschen Post verbracht.
Heute leitest du als Deutschlanddirektorin das Centre for Feminist Foreign Policy, eine gemeinnützige Forschungs- und Beratungsorganisation zu feministischer Außenpolitik. Wie bist du da hin gekommen?
Ich bin an Orte gegangen, die für jemanden wie mich in unserer Gesellschaft nicht gedacht waren. Mit jeder Hürde, die ich genommen hatte, wurde der nächste Schritt möglich. Nach meinem Studium dachte ich, warum gehe ich jetzt eigentlich nicht in den diplomatischen Bereich? Es hat sich auch ein Gefühl entwickelt mit der Zeit, ein Selbstbewusstsein: Wenn ihr mir sagt, das schaffe ich nie, dann mache ich das! Dann erst recht!
Dir wurde gesagt, das schaffst du nie?
Ja, ständig! Manchmal wurde mir das explizit gesagt, vor allem wenn ich in elitäre Kreise reingekommen bin. Stärker war aber das Gefühl, ausgeschlossen zu sein; mit meinem Hintergrund nicht vorgesehen zu sein. Da sagt niemand: Du hast hier nichts verloren. Es ist subtiler. Du bist bei den Partys am Abend nicht eingeladen, beim Abendessen wird nicht mit dir geredet, du wirst komisch angeschaut. Dir wird das Gefühl gegeben, dass du falsch angezogen bist, dass deine Wortwahl nicht reinpasst, dass die Kommentare, die du machst, komisch sind.
Was muss sich aus deiner Sicht in unserer Arbeitswelt ändern, damit Menschen diese Erfahrungen nicht mehr machen müssen?
Der Zugang zu Macht und Ressourcen muss fairer verteilt sein. Solange das nicht passiert, wird das System ausschließend bleiben und sehr viele Menschen am Rand halten. Wenn wir Utopien entwickeln, sollte es das oberste Ziel sein, dass alle dieselben Möglichkeiten bekommen.
Klingt abstrakt. Wie machen wir das?
Da gibt es viele Stellschrauben. Es muss sanktioniert werden, wenn Menschen nicht das gleiche Gehalt für die gleiche Arbeit bekommen. Das Ehegattensplitting muss abgeschafft werden. Männer bekommen mehr Karriereoptionen, nur weil sie Männer sind. Sie werden bevorzugt, solange es nicht genauso wahrscheinlich ist, dass ein Mann Erziehungsurlaub nimmt, wenn er ein Kind bekommt. Die Wahrscheinlichkeit muss bei Männern und Frauen gleich hoch sein.
Aber geht nicht meistens einfach die Person weiter arbeiten, die mehr Geld verdient?
Das stimmt. Unser Wirtschaftssystem muss deswegen in Zukunft auch Care-Arbeit finanzieren. Weltweit arbeiten Frauen mehr als Männer – aber der Großteil dieser Arbeit wird schlecht oder gar nicht bezahlt. Unser Wirtschaftssystem basiert darauf, dass Frauen sehr viel unbezahlte Arbeit leisten. So wird das Geld bei denen mehr, die bezahlte Arbeit übernehmen, während Frauen schlecht oder unbezahlte Care-Arbeit leisten und das als gegeben annehmen. Was mit Frauen assoziiert wird, wird nicht oder schlecht bezahlt.
Was bedeutet das ganz konkret in einer Organisation?
In meiner Organisation verfolgen wir einen feministischen Führungsstil. Das bedeutet, dass die Bedürfnisse der Menschen, die bei uns arbeiten, im Vordergrund stehen und nicht Profite des Unternehmens. Es ist relevant und akzeptiert, wenn jemand im Team sagt: Ich kann heute nicht, ich habe meine Tage oder mir geht es psychisch nicht gut.
Es geht dabei um menschliche Sicherheit, das Bedürfnis nach Bildung und Ausbildung, den Lebensunterhalt zu bestreiten, ein gesundes Leben führen zu können. Dieser Aspekt ist für eine feministische Außenpolitik zentral, aber er muss auch auf der Mikroebene in Unternehmen etabliert werden.
Wenn ich in meiner Organisation etwas verändern will, was kann ich tun? Wie fange ich an?
Es gibt Feminist-Leadership-Prinzipien, über die man sich informieren und die man dann ins eigene Team einbringen kann. Wem das selbst zu anstrengend ist oder wer keine Lust auf Gegenrede hat, kann Speaker*innen zu diesem Thema engagieren, in der Hoffnung, dass Vertrauen daraus entsteht, dass eine bessere Kultur entsteht, wenn Macht quer verteilt wird, wenn keine Macht missbraucht wird, wenn wir auf unsere eigenen Bedürfnisse und Grenzen und die anderer achten.
Diese Ideen sind nicht ganz neu. Warum passiert Veränderung nur so langsam?
Menschen geben nicht gerne Macht ab. Und sie geben Macht lieber an Personen weiter, die ihnen ähnlich sind. Wissenschaftliche Ergebnisse zeigen deutlich: Wenn wir in patriarchalen Gesellschaften wie unserer nicht stark eingreifen, an Stellschrauben drehen wie zum Beispiel durch Quoten, dann besteht das System weiter. Es darf nicht sein, dass in unserer Gesellschaft bestimmte Personengruppen nur aufgrund bestimmter Charakteristika wie Geschlecht bevorzugt werden.
Aber sind Quoten nicht genau das: eine Bevorzugung einer bestimmten Gruppe?
Oft heißt es, Quoten führten dazu, dass Frauen Jobs nur bekommen, weil sie Frauen sind. Aber genau das machen wir bei Männern seit Ewigkeiten, es passiert seit Hunderten von Jahren: Männer machen leichter Karriere, bekommen mehr Ressourcen, mehr Zugänge – einfach nur weil sie Männer sind, nicht weil sie besser sind. Das muss ein Ende haben.
Wenn wir uns die Kompetenz- und IQ-Verteilung anschauen, gibt es keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Eine so starke Überrepräsentation von Männern wie zum Beispiel in den Vorständen der DAX-Unternehmen bedeutet, dass wir nicht die besten und fähigsten Leute in diesen Positionen haben. Und dass wir andere Menschen ausschließen, ihnen mega Steine in den Weg legen und ihnen nicht dieselben Chancen einräumen. Es sollten aber alle Menschen den gleichen Zugang zu Macht und Ressourcen haben. Alles andere ist eine unfaire und ungerechte Gesellschaft. Außerdem haben McKinsey, BCG und Co schon mehrfach belegt, dass ein egalitäreres System viel ertragreicher für Wirtschaften wäre.
Gemischt, ich bekomme viel Hass und Gegenrede, aber auch viel Zuspruch. Ich habe meine feministische Arbeit damit begonnen, eine Kampagne zu organisieren, gegen die Bild-Zeitung und Kai Diekmann, gegen die Objektifizierung, die eine Verbindung zu der krass hohen Gewaltrate gegen Frauen in unserer Gesellschaft hat. Da habe ich Vergewaltigungsdrohungen und Drohungen gegen meine Familie erhalten. Es hätte fast dazu geführt, dass ich meine Arbeit aufgegeben hätte, weil ich mich eingeschüchtert gefühlt habe und Angst hatte.
Du hast trotzdem weitergemacht. Was hat dir dabei geholfen?
Zum einen der Zusammenhalt mit und die Unterstützung von anderen, vor allem Frauen, die wie ich feministisch agieren und daran arbeiten, die Gesellschaft zu verändern. Durch den Erfahrungsaustausch habe ich verstanden, dass diese Hürden und die Gewalt, die mir entgegenschlägt, nichts mit mir als Person selbst zu tun haben, sondern mit einem System, einer patriarchalen Gesellschaft, die alles dafür tut, Frauen kleinzuhalten, um ihnen nicht die Hälfte der Macht abgeben zu müssen. Daraus resultierte auch eine Trotzreaktion meinerseits, die ich bis heute habe, wenn mir jemand sagt: Das kannst du nicht, das klappt nicht, das ist Blödsinn, das ist viel zu utopisch. Da denke ich mir: Nö, jetzt erst recht!
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