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Mutig: Große Brote retten, statt kleine Brötchen backen

Durchgestrichen heisst nicht unverkäuflich Foto: imago/Christian Ohde

Erstmals wird in Deutschland „gerettetes" Essen gewinnorientiert verkauft. Noch ist das Angebot des Berliner Lebensmittelladens überschaubar.

BERLIN taz | Eine merkwürdige Situation muss das gewesen sein, als Raphael Fellmer, bekannt geworden durch seinen fünfjährigen Geldstreik, und Alexander Piutti, Digital-Unternehmer und Gründer zahlreicher Start-ups, das erste Mal aufeinandertrafen: „Wir haben uns angeschaut, als würden wir aus zwei verschiedenen Welten kommen“, sagt Raphael. Was dabei herausgekommen ist, scheint ähnlich absurd: Sie haben ein food outlet-Laden für gerettete Lebensmittel, die im normalen Handel weggeworfen würden, weil ihr Haltbarkeitsdatum abläuft oder das Obst und Gemüse braune Stellen bekommt. „Sir Plus“ heißt das neue Start-up in Berlin-Charlottenburg, an dem außerdem Umweltingenieur Martin Schott beteiligt ist, und das am Freitag feierlich eröffnet wurde.

Absurd wirkt es auf den ersten Blick deswegen, weil es auf der ebenfalls von Raphael stammenden Idee von „Foodsharing“ beruht, einer Online-Plattform, über die schon seit vier Jahren Lebensmittel-Rettungen bei Supermärkten und Küchen organisiert werden. Die werden umsonst weiter verteilt, denn der Verzicht auf Geld ist oberstes Prinzip. Nun kommt das Geld wieder ins Spiel: 93.000 Euro haben die drei Initiatoren von „Sir Plus“ über Crowdfounding eingenommen, weitere 100.000 Euro Darlehen bekommen, nun müssen sie mit dem Laden auch verdienen. „Profit ist eine philosophische Frage“, findet Alexander Piutti. „Wir brauchen ein Business-Modell, denn wir wollen keine kleinen Brötchen backen. Das Problem ist gigantisch!“

Das Problem ist die Verschwendung von Nahrungsmitteln, die Tag für Tag in der Tonne landen, vor allem in der Gastronomie. Eine Klasse junger Köch*innen ist zur Eröffnung von „Sir Plus“ gekommen. „Viele Leute wissen gar nicht, wie viel wir wegwerfen müssen, aber ich erlebe das selbst“, sagt Anna Gaengler, die ihre Ausbildung im Hilton Hotel macht und ihrer Küche nun eine Zusammenarbeit mit „Sir Plus“ vorschlagen will.

Kooperationspartner braucht der kleine food outlet-Laden noch, bislang ist das Angebot sehr überschaubar. Neben einer Auswahl an Obst und Gemüse, unter anderem von der Metro und der BioCompany, standen die zahlreichen Besucher*innen, die am Freitag zur Eröffnung kamen, vor allem vor Verpackungen. „Erdbär“  und „Helden“ heißen die beiden Firmen, die gesunde und nachhaltige Bio-Kindersnacks, Müslis und „Quetschbeutel“ mit 100 ml Obstpüree verkaufen. Dass Produkte als nachhaltig gelten, die aus mehr Plastikumhüllung als Inhalt bestehen, wirkt ähnlich ironisch wie ihr Verkauf gegen Centbeträge. „Das ist immer so ein Drahtseilakt mit der Kalkulation, da geht eben manchmal etwas daneben“, erklärt Alexander Neumann, Geschäftsführer von „Erdbär“, die Überproduktion, die nun in den Regalen von „Sir Plus“ gelandet ist.

Snacks und Getränke dominieren das Angebot, für 60 Cent bekommt man Snickers, Milka-Schokolade oder sogar Bier, ein Salat kostet 15, eine Schale Erdbeeren 50 Cent. Fleisch- und Milchprodukte sind auch geplant, werden momentan aber noch nicht verkauft, da Kühlwaren höhere Hygienestandards erfüllen müssen. Die werden auf jeden Fall eingehalten, alle Produkte werden stichprobenartig geprüft, versichert Martin Schott. Fast jedes Lebensmittel sei noch gut, wenn das Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist, und darf auch noch verkauft werden. Die Verantwortung liegt dann aber nicht mehr beim Hersteller, sondern beim verkaufenden Geschäft.

Was in Skandinavien viel üblicher ist, macht „Sir Plus“ nun als erster Laden in Deutschland. In Köln gibt es einen ähnlichen Betrieb, der jedoch ehrenamtlich und ohne Expansionsbestrebungen läuft. „Sir Plus“ hingegen will weiter wachsen, einen Lieferdienst starten, Arbeitsplätze schaffen, „Mainstream werden“, wie die drei Gründer verkünden. „Wir haben eine gewisse Portion Mut“, sagt Raphael Fellmer stolz. Den hat er definitiv schon bewiesen, als er bis zur Geburt seines zweiten Kindes ohne Geld und von gerettetem Essen lebte. Die Hippie-Zeit ist offensichtlich vorbei – und „Foodsharing“ erwachsen geworden.



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