Selten erregen Predigten öffentliche Aufmerksamkeit. Selbst Predigten des Papstes werden über den Kreis der passionierten Vaticanisti hinaus kaum zur Kenntnis genommen. Anders die Predigt von Papst Franziskus zur Beerdigung des Papa emeritus, Benedikts XVI. Sofort nach der Totenmesse erhoben sich Stimmen des Missfallens. Unmittelbar nach der Zeremonie auf dem Petersplatz sprach der amerikanische Journalist Rod Dreher, Autor eines in rechtskatholischen Kreisen beliebten Bestsellers mit dem sprechenden Titel „The Benedict Option", auf Twitter von einem „schändlichen Akt".
Der amtierende Papst hätte die gleiche Predigt auch für seinen Butler halten können, lautete das vernichtende Urteil. Benedikts letzte Amtshandlung habe nun darin bestanden, die mangelnde Seelengröße seines Nachfolgers zu entblößen. Zuletzt rief Dreher seiner digitalen Gefolgschaft zum Kontrast die „überschwängliche und liebevolle Erinnerung" des damaligen Kardinaldekans und Präfekten der Glaubenskongregation Joseph Ratzinger an Johannes Paul II. in dessen Totenmesse am 8. April 2005 ins Gedächtnis.
Während damit die Kritik von Seiten des Traditionalismus von eigenen Gnaden wenig überraschend ausfiel, ließen die ebenfalls auf Twitter getätigten Äußerungen des in Erlangen lehrenden evangelischen Theologen Peter Dabrock aufhorchen: „Lustlos, kraftlos, unpersönlich" sei die Predigt von Franziskus gewesen. Der frühere Vorsitzende des Deutschen Ethikrats sieht in der Predigt, wie er in einem Beitrag für die vom Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik herausgegebene Zeitschrift „Zeitzeichen" erläuterte, ein „Sinnbild" für den Zustand der katholischen Kirche.
Der amtierende Papst habe Evangelium und Person nicht in Einklang bringen können, sich in Floskeln verlaufen und auf diese Weise versäumt, einer über die römische Blase hinausgehenden Weltkirche „Trost und Hoffnung" zu spenden. In der Mutlosigkeit des Predigers zeige sich der spezifisch katholische Gestus, „völlig abgekoppelt von der Lebenswirklichkeit moderner Menschen in der eigenen Bubble zu verharren" und „steile theologische Sätze ohne ernsthaften Rezipientenbezug zu verbreiten".
Vorsichtige Wendung an den BruderIn der Tat fehlt der Predigt des Papstes die persönliche Note. Während Joseph Ratzinger den verstorbenen Johannes Paul II. durchgängig als „Heiligen Vater" adressierte und den Gläubigen dessen Leben in Bezug auf Jesu Aufforderung zur Nachfolge als heroisches Leiden mit Christus auseinanderlegte, bezeichnet Franziskus seinen Vorgänger eher zurückhaltend als „Hirten", „Bruder" oder in der Sprache der Brautmystik des alttestamentlichen Hoheliedes als „treuen Freund des Bräutigams". Gelegentlich flicht der amtierende Papst ferner Zitate ein, die aber nur für Eingeweihte sofort als Zitate erkennbar sind - aus Benedikts erster Enzyklika „Deus caritas est" von 2005 oder aus einer Predigt zur Chrisam-Messe im Petersdom von 2006.
Den größten Teil der Predigt nimmt eine Meditation über die letzten Worte Jesu ein, die vom Evangelisten Lukas überliefert werden: „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist" (Lk 23,46). Der Gottessohn, der zweifelte und - folgen wir Matthäus oder Markus - „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" (Mt 27,46 oder Mk 15,34) rief, nimmt für Franziskus so „alle Konsequenzen und Schwierigkeiten des Evangeliums auf seine Schultern". Diese Hingabe soll einer Person, der die Kirche anvertraut ist, zum Vorbild werden sowie in ihr die Befähigung wachsen lassen, zu „verstehen, anzunehmen, zu hoffen und alles zu wagen".
Deshalb verweist Franziskus am Ende wohl nicht zufällig auf das Beispiel Gregors I., des großen Kirchenlehrers der Spätantike und Verfassers des „Liber regulae pastoralis", einer Art Fürstenspiegel für Seelsorger: Er prägte unter Berufung auf die Apostel Petrus und Paulus das päpstliche Selbstverständnis als „servus servorum Dei", als „Knecht der Knechte Gottes". Das Nachdenken über diese Referenz ringt einem Papst im Licht stets das Eingeständnis ab, dass „er nicht allein tragen kann, was er in Wirklichkeit nie allein tragen könnte". Er ist - wie Franziskus es eindringlich formuliert - immer darauf angewiesen, „sich dem Gebet und der Fürsorge des Volkes zu überlassen, das ihm anvertraut wurde".
Indem sich Franziskus in dieser leisen Predigt die Lobrede versagt, bietet er der Weltkirche einen alternativen Umgang mit dem Tod des emeritierten Papstes an: Statt Benedikt sofort zur Ehre der Altäre zu erheben, sein theologisches Erbe durch die Ernennung zum Kirchenlehrer der Diskussion zu entziehen oder das vergangene Pontifikat durch die Veröffentlichung von Enthüllungsbüchern abschließend zu beurteilen, übt sich der amtierende Papst in Zurückhaltung. Trotz aller römischen Rituale steht für ihn nicht mehr ein „defensor fidei" nach Drehers Geschmack oder der höchste Repräsentant einer von Dabrock gescholtenen „hierarchologisch verfassten römisch-katholischen Amtskirche", sondern der sterbende Jesus im Mittelpunkt.
Die von Benedikt durch seinen unerwarteten Verzicht von 2013 angedeutete Entsakralisierung des Papsttums findet so eine verschlungene Fortsetzung - aus der petrinischen Kirche der letzten zwei Jahrhunderte darf wieder eine dienende, der Hingabe fähige Kirche werden. Auf ungeahnte Weise könnte Franziskus seinem Vorgänger mit dieser Predigt dessen bereits zu Amtsantritt geäußerten Wunsch erfüllt haben, nur ein „einfacher und bescheidener Arbeiter im Weinberg des Herrn" zu sein.