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Die stolzen Hüter der Republik - Rolle des Militärs in der Türkei

Loay Mudhoon, Ausgabe IV/2008, Atatürks Erben. Die Türkei im Aufbruch

Anders als in anderen Demokratien wird in der Türkei die Rolle des Militärs vom Großteil der Bevölkerung positiv gesehen

Das türkische Militär ist vom politischen Leben am Bosporus nicht wegzudenken. Die Streitkräfte spielten und spielen bis heute eine zentrale Rolle im politischen Entscheidungsfindungsprozess. Sie werden von anderen Gewalten nicht kontrolliert – und agieren deshalb innerhalb der staatlichen Sphäre weitgehend autonom.Dieser Sonderstatus wird alle zwei Jahre durch den turnusmäßigen Wechsel an der Spitze der türkischen Armee eindrucksvoll demonstriert: Bei der Ernennung des neuen Generalstabchefs haben weder der Ministerpräsident noch das Parlament Mitspracherecht.

Und so musste Recep Tayyip Erdogan die Ernennung des von der Armeeführung Anfang August vorgeschlagenen Generals ?lker Ba?bu? auch nur formal bestätigen. Einige Politikwissenschaftler sprechen angesichts der Machtfülle der Generäle zu Recht von einem „System der Behütung“ oder gar von einer „Militär-Demokratie“.Vor allem mittels des Nationalen Sicherheitsrats, der nach dem Putsch im Jahre 1960 gegründet wurde, übt die Armee großen Einfluss auf alle staatlichen Gewalten aus.

Der Nationale Sicherheitsrat, welcher der Regierung verbindliche Vorgaben macht, erhielt 1980 – nach dem dritten Putsch – größere Kompetenzen, und sein Generalsekretariat wurde mit geheimen Erlassen zu einer faktischen Gegenregierung ausgebaut.Alle anderen Staatsgewalten sind einer Überwachung durch das Militär unterworfen.

Überraschenderweise lässt sich diese wohl einzigartige Stellung eines Militärapparates in einer Demokratie damit aber nicht ausreichend erklären. Vielmehr beruht der Sonderstatus darauf, dass die Akzeptanz der türkischen Streitkräfte als integraler Bestandteil der politischen Kultur im öffentlichen Bewusstsein der Türkei historisch fest verankert ist.

Anders als in anderen Demokratien wird die Rolle des Militärs in der Türkei weitgehend positiv gesehen, und die Militäreliten genießen in der Bevölkerung einen geradezu unantastbaren Ruf, aus dem sie ihre Legitimation als die eigentlichen Hüter der Republik nähren.

Aktuelle Umfragewerte bestätigen das hohe Ansehen der Armee, die als die vertrauenswürdigste Institution des Landes gilt. Das hat sicherlich mit dem Gründungsmythos der Republik und mit der ruhmreichen Geschichte der türkischen Streitkräfte zu tun: Vom legendären Befreiungskampf der Jahre 1919 bis 1922 und der Invasion auf Zypern 1974 bis zum andauernden Kampf gegen die kurdische Separatistenorganisation PKK avancierte das Militär zur einzigen Institution im Land, die maßgeblich zum Nationalstolz der Türken beigetragen hat.

Auch der ehemalige General und Gründer der Repubik Mustafa Kemal wird von den meisten Türken verehrt, weil er dem Land den Absturz in ein koloniales Regime, wie es den arabischen Nachbarn durch die Siegermächte des Ersten Weltkrieges zuteil wurde, erspart hat.Hinzu kommt, dass das Militär durch seine besondere Rolle als Instrument der Durchsetzung der laizistischen Reformen und Modernisierungsschübe von oben, auf denen Atatürk seinen gesamten Staat aufbaute, unbestreitbare Legitimation erhielt: Das türkische Militär war die einzige Kraft, die das fehlende Bürgertum in der türkischen Gesellschaft ersetzen konnte – und es bildete die Machtsäule, auf die sich die anderen Institutionen des kemalistischen Staatsapparates stützten.

Dieses Selbstverständnis führt fast zwangsläufig dazu, dass die türkischen Streitkräfte sich berufen fühlen, in die Politik des Landes einzugreifen, wenn sie glauben, „ihr Staat“ sei bedroht. Dafür gibt es Beispiele zur Genüge: Neben den offenen Interventionen in den Jahren 1960, 1971, 1980 sowie dem „weichen Putsch“ 1997 versuchten die Generäle im wahrscheinlich ersten „Internetputsch“ der Geschichte am 27. April 2007 vergeblich, die Wahl Abdullah Güls zum Staatspräsidenten zu verhindern.

Dennoch: Die Rolle der türkischen Streitkräfte unterscheidet sich grundlegend vom arabischen Militarismus. Ihre größte Besonderheit liegt darin, dass sie die Errichtung einer Militärdiktatur wie in den nahöstlichen Nachbarstaaten nie angestrebt haben. Arabische Armeen und das Militär der „göttlichen Republik“ Irans fungieren weitgehend als Garanten bestehender Diktaturen und Ins­trumente ihrer repressiven Machtbewahrung.Da in der aus den 1980er-Jahren stammenden Verfassung der Konflikt um Kompetenzen und Macht zwischen türkischem Militär und Regierung bereits angelegt ist, müsste bald eine neue zivile Verfassung erarbeitet werden.

Ohnehin wird die Armeeführung im Zuge der Angleichung an EU-Standards auf einen erheblichen Teil ihrer Macht verzichten müssen. Dies im Einvernehmen mit der Armeeführung zu bewerkstelligen, dürfte sich als eine große Herausforderung erweisen – nicht nur für die post-islamischen AKP-Aufsteiger, sondern auch für den neuen Generalstabschef Başbuğ.

Autor: Loay Mudhoon


Dieser Artikel ist in der Ausgabe IV/2008, Atatürks Erben. Die Türkei im Aufbruch erschienen. 


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