Hervorgegangen aus einer islamistischen Partei, hat sich die AKP seit ihrem Regierungsantritt 2002 zu einer Partei der "neuen türkischen Mitte" entwickelt. Auf den arabischen Raum lassen sich die türkischen Erfahrungen im Umgang mit dem Islamismus jedoch kaum übertragen.
Im Zuge des epochalen Bewusstseinsschocks nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 nahm die internationale Debatte über die Rolle der türkischen Republik als zivilisatorisches Entwicklungsmodell für die Modernisierung der Region des Nahen und Mittleren Ostens und als kulturelle Brücke zwischen dem "Westen" und der "islamischen Welt" sowohl auf akademischer Ebene als auch auf Ebene der Entscheidungseliten und der ihnen nahestehenden Think-Tanks deutlich an Intensität zu.
Der Modellcharakter der Türkei für einen moderaten Islam als potentieller Partner für den Westen in einer "Allianz für Frieden und gegen globale Gefahren" und als Mittelweg zwischen radikalem Islamismus und "offiziellem Staatsislam", auch "Petro-Islam" genannt, wurde immer wieder sowohl von europäischen und amerikanischen Entscheidungseliten als auch von Vertretern eines religiös-demokratischen Konservatismus in der türkischen AKP-Regierung (Adalet ve KalkÝnma Partisi, "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung") hervorgehoben. Auch US-Präsident Barack Obama scheint die weltpolitische Dimension eines funktionierenden und glaubwürdigen "Modellstaats" für die Vereinbarkeit von Demokratie, Pluralismus, Rechtsstaatlichkeit - allesamt genuine Errungenschaften der westlich geprägten Moderne - mit dem Islam erkannt zu haben. Anscheinend davon angetrieben, hat Obama bei seinem Türkei-Besuch im April 2009 für die Aufnahme des mehrheitlich muslimischen Landes in die Europäische Union (EU) plädiert. Die moderne Türkei sei auf ähnlichen Werten wie die USA errichtet worden - "als säkulares Land mit Respekt für die Religion, den Rechtsstaat und alle Freiheiten".
Im Folgenden soll primär der Frage nachgegangen werden, inwiefern die türkische AKP islamistischen bzw. islamischen Parteien und Bewegungen im arabischen Raum als Vorbild für eine mögliche Integration in die bestehenden politischen Systeme dienen kann. Hieraus ergeben sich weitere, untergeordnete Fragestellungen: Wie kam es zur Reform des türkischen Islamismus und inwiefern unterscheiden sich die politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen in der Türkei von denen in den arabischen Staaten? Als Einstieg in das Thema bietet sich eine kurze Einführung in die historischen und politischen Besonderheiten der Türkei und in die Genese der AKP an.
Innerhalb der islamischen Welt stellt die Türkei in vielerlei Hinsicht einen Sonderfall dar. Neben Indonesien ist sie eine der wenigen funktionierenden muslimisch-säkularen Demokratien - wenn auch mit unleugbaren Defiziten. Sie ist das einzige Land in der muslimischen Staatengemeinschaft, in dem der Islam nicht als Staatsreligion beziehungsweise als erste Quelle der Gesetzgebung institutionalisiert wurde. Gleichzeitig ist der Laizismus als das wichtigste Leitprinzip der Republik in der türkischen Verfassung fest verankert. Hinzu kommt, dass in keinem anderen Staat mit überwiegend muslimischer Bevölkerung die Religion so sehr aus dem öffentlichen und politischen Leben verdrängt worden ist.
Diese Tatsache liegt vor allem darin begründet, dass die vom Staatsgründer "Atatürk" durchgesetzte Trennung von Staat und Religion im Laufe der Geschichte der türkischen Republik immer wieder sowohl Gegenstand als auch Instrument politischer Auseinandersetzungen gewesen ist - und bis heute einem sehr rigiden, jakobinischen Laizismusverständnis unterliegt, das sich Re-Islamisierungstendenzen, aber auch jeglicher religiöser Sichtbarkeit im öffentlichen Leben vehement entgegenstellt. Denn "der Laizismus jakobinischer Prägung betrachtet religiöse Anschauungen und religiöse Praxis ausschließlich als Gewissensfragen des Einzelnen. Im Gegensatz zu dieser positivistischen Auffassung wird der Laizismus nach angelsächsischem Verständnis lediglich unter rein politischen und juristischen Gesichtspunkten betrachtet, das heißt als institutionelle Trennung von Religion und Staat. Sie wendet sich somit nicht gegen öffentliche oder soziale Äußerungsformen der Religion, solange diese nicht die Belange des Staates berühren". Die mächtigen Institutionen des laizistisch-kemalistischen Staates, insbesondere in Militär und Justiz, fungieren immer noch als Hüter der Republik und starke Bastionen gegen alle Versuche, die bestehende Ordnung zu gefährden.
Der Kampf um die (Neu-)Interpretation des Laizismus ist auch ein Kampf um die "kulturelle Hegemonie" zwischen den Anhängern der kemalistischen Staatsideologie aus dem militärisch-bürokratischen Lager, welche seit Gründung der Republik 1923 die Schlüsselpositionen in Politik, Medien, Bürokratie, Militär und Justiz innehatten, und den neuen islamisch-konservativen Eliten um die AKP. Der Machtkampf hat sich seit dem Frühjahr 2007 verschärft. Hierbei geht es nicht um die Etablierung einer anderen Staatsform, sondern lediglich um die "Deutungshoheit über die Identität der Republik".
Die Zuspitzung des Machtkampfes gipfelte in einer Staatskrise um die Wahl eines neuen Staatspräsidenten im Jahr 2007, als kemalistisch-nationalistische Kräfte die Wahl des damaligen Außenministers Abdullah Gül kategorisch ablehnten und die Regierungspartei sich auch auf keinen Kompromisskandidaten einließ. Im wohl ersten "Internetputsch" der Geschichte drohten die türkischen Generäle am 27. April 2007, gegen alle Kräfte vorzugehen, welche die laizistischen Grundwerte der Republik in Frage stellen. Das Verfassungsgericht ließ sich instrumentalisieren und verhinderte nach Drohungen der kemalistischen Militärelite die Wahl Güls zum Staatspräsidenten.
Nachdem die Präsidentenwahl gescheitert war und die Polarisierung zwischen den weltlichen und islamisch-konservativen Kräften das Land lähmte, entschied sich Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan für vorgezogene Parlamentswahlen am 22. Juni 2007. Trotz des fulminanten Wahlsiegs der AKP dauerte die politische Polarisierung fort und führte im vergangenen Jahr zur Einleitung eines Verbotsverfahrens gegen die Regierungspartei. Der Generalstaatsanwalt forderte mit der Begründung, dass die AKP ein Zentrum antisäkularer Aktivitäten sei, ihre Auflösung und ein Betätigungsverbot für ihre Spitzenpolitiker. Das Verfahren endete zwar mit einem knappen Freispruch, gleichwohl wurden aber der AKP die staatlichen Finanzzuschüsse erheblich gekürzt.
Diese zunehmende politische und gesellschaftliche Polarisierung verringerten den Handlungsspielraum der regierenden Eliten und hatten insbesondere seit Ende 2005 in erheblichem Ausmaß auch den Reformprozess des Landes verlangsamt.
Zu den wichtigen Besonderheiten der türkischen Republik gehört auch die Tatsache, dass sie als einziges muslimisches Land Mitglied der NATO ist und Beitrittsverhandlungen mit der EU führt, darüber hinaus der Konferenz der Islamischen Staaten angehört. Sie schafft als "einziges Land diesen Dreierspagat zwischen dem Transatlantischen Bündnis, der EU und der islamischen Welt - das sind die Assets der Türkei aus friedenspolitischer Sicht".