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Feature

»Wer weiß, wann du wieder rauskommst.«

Ein Mann wird erdrückt von überwältigender Leere. Eine Frau hat nichts, was ihren Blick hält. Ein Mann ist allein in seiner Zelle und fühlt sich beobachtet. Eine Frau sitzt fest in einem Haus am Ende der Straße und versucht, nicht zu verzweifeln. Vier Geschichten erzählen von einem Ausnahmezustand: dem Lagerkoller.


Nach alter Zeitrechnung ist es der 4. Mai 2020. Seit 50 Tagen sitze ich im ausgangsbeschränkten Italien fest. Wegen des Coronavirus und seinen Folgen bin ich am 14. März überstürzt aus Deutschland aufgebrochen und zu meiner Familie nach Südtirol gereist. Als ich in den Zug stieg, erhielt ich eine Nachricht von einem Freund: »Südtirol wäre der letzte Ort, an den ich jetzt fahren würde. Wer weiß, wann du wieder rauskommst.«

In den folgenden 50 Tagen sollte ich oft daran denken und mich fragen, ob es die richtige Entscheidung war: meine Bewegungsfreiheit aufzugeben, mich abzukapseln vom Rest der Welt in einem Haus am Ende der Straße.

Covid-19 hat Italien und seine Bevölkerung stark getroffen, fast 30.000 Erkrankte sind hier gestorben – es ist allerdings nicht sicher, bei wie vielen Infizierten Covid-19 auch die Todesursache war. SARS-CoV-2 hat Ministerpräsident Giuseppe Conte dazu veranlasst, Italien am 9. März zum Risikogebiet zu erklären und die Bevölkerung zu schützen, indem er strenge Ausgangsbeschränkungen verhängt. Mehrere Wochen lang darf man sich nicht weiter als 200 Meter vom Haus entfernen. Carabinieri, Polizei, Finanzpolizei und sogar Forstarbeiter unternehmen Kontrollfahrten. Innerhalb der ersten 13 Tage der Ausgangsbeschränkungen kontrollieren sie 2,5 Millionen Personen, davon werden 110.000 Personen angezeigt.


Nichts als Schnee

Innerhalb der ersten 13 Tage erlebe ich … fast nichts. Sie unterscheiden sich vor allem dadurch, wie tief ich im Schnee rund um das Haus einsinke. Ich nehme mir viel vor, weil ich produktiv sein und endlich die sieben Bücher lesen will, die ich aus Deutschland mitgenommen habe. Stattdessen sehe ich alte Serien an und verbringe zu viel Zeit in sozialen Netzwerken, die geflutet werden von Kinderfotos und Fitness-Challenges. Ich telefoniere mit Freunden, bis wir uns nichts mehr zu erzählen haben, weil nichts passiert.

Irgendwann fange ich doch zu lesen an. Immer wieder stoße ich auf einen Begriff, der sich nicht klar definieren lässt. Er beschreibt einen Ausnahmezustand, den vor allem Menschen erleben, die zwangsweise und bei belastenden Bedingungen untergebracht werden, in einem Lager, einem Gefängnis, in Notunterkünften: Lagerkoller.

Das Wort »Koller« kommt vom lateinischen cholera, was Zornausbruch bedeutet. Heute beschreibt es einen Zustand, in dem sich Emotionen entladen. Bei einem Lagerkoller muss das nicht Zorn sein. Er kann sich auch in Angst, Verzweiflung oder Depression kleiden. Lagerkoller ist kein psychologischer Fachbegriff. Er ist keine Krankheit, sondern ein Stresszustand, ausgelöst durch soziale Isolation oder den Entzug von sinnlichen Wahrnehmungen. Er überfällt Menschen, die eingesperrt sind in einen Raum, aber er kann sie auch inmitten einer unbegrenzten Weite überwältigen.

An Tag 33 schlage ich ein Buch auf, das mich nicht mehr loslässt: die Geschichte eines Mannes, der festgehalten wird in einem Hotelzimmer und bereits nach kurzer Zeit Symptome eines Lagerkollers zeigt – Die Schachnovelle von Stefan Zweig.

Nichts als Gedanken

Seine Gedanken drehen sich im Kreis, weil er nichts hat, um sie festzuhalten. Keinen Stift, um sie aufzuschreiben, kein Buch, um sich von ihnen abzulenken. Das Zimmer, in dem Dr. B. festgehalten wird, hat er so oft mit Schritten durchmessen, dass sein Körper die Entfernungen gespeichert hat, die Tapete an der Wand hat er so oft angestarrt, dass »jede Linie ihres gezackten Musters sich wie mit ehernem Stichel eingegraben hat bis in die innerste Falte meines Gehirns«. Seine Welt besteht nur noch aus einem Tisch, einer Tür, einem Bett, einer Waschschüssel, einem Sessel, einem Fenster, einer Wand. Und aus ungezählten Gedanken, die er nicht aufhalten kann, von denen er nach einigen Monaten nicht mal mehr wissen wird, ob es seine eigenen sind.

»… man lebte wie ein Taucher unter der Glasglocke im schwarzen Ozean dieses Schweigens und wie ein Taucher sogar, der schon ahnt, daß das Seil nach der Außenwelt abgerissen ist und er nie zurückgeholt werden wird aus der lautlosen Tiefe«, beschreibt Dr. B.

Seine Isolation ist nichts anderes als Folter. Die Gestapo will ihm Informationen entlocken: »Man tat uns nichts – man stellte uns nur in das vollkommene Nichts, denn bekanntlich erzeugt kein Ding auf Erden einen solchen Druck auf die menschliche Seele als das Nichts. Indem man uns jeden einzeln in ein völliges Vakuum sperrte, in ein Zimmer, das hermetisch von der Außenwelt abgeschlossen war, sollte, statt von außen durch Prügel und Kälte, jener Druck von innen erzeugt werden, der uns schließlich die Lippen aufsprengte.«

Bereits nach wenigen Tagen lässt Dr. B.s Konzentration nach, seine Schlaf- und Wachphasen geraten aus dem Rhythmus, er driftet in eine Raum- und Zeitlosigkeit ab, weil ihm Anhaltspunkte für Datum und Ort fehlen. Sein Gehirn gerät immer mehr in Unordnung. Irgendwann geht er tollwütig auf einen Wärter los.

Niemand hielt länger als eine Woche durch

Anders als Dr. B. existieren die Symptome des Lagerkollers, die er zeigt, in der Realität. In den 1950er-Jahren untersuchte der Psychologe Donald Hebb in einer Studie, was passiert, wenn nichts passiert. Er beobachtete Studierende, die sich in einer Kammer aufhielten. Die Probanden trugen Kopfhörer, Brillen und Handschuhe, damit sie nichts hörten, nichts sahen und weniger spürten. Ihre Sinne sollten so wenig Reize wie möglich erhalten.

Nach wenigen Tagen stiegen die meisten aus der Studie aus. Niemand hielt länger als eine Woche durch. Die Studierenden verloren die Kontrolle darüber, was sie sahen, hörten und fühlten – die Unruhe, die Unfähigkeit, klar zu denken, die Halluzinationen zwangen sie zum Aufgeben.

Aktiv gegen den Lagerkoller

Nachdem ich die Schachnovelle gelesen habe, durchdringt mich der Wunsch, meinen Sinnen so viel Nahrung wie möglich zu geben. Ich sehe mich um in meinem Zimmer. Was ich dabei erblicke, beruhigt mich: jede Menge Ablenkung. Ich kann meine Sinne mit Filmen betäuben, mit Artikeln im Internet, mit Büchern, die mich in andere Welten entführen.

»Ablenkung ist gesund«, erklärt mir Jürgen Hoyer später am Telefon. Er ist Professor für Behaviorale Psychotherapie an der Technischen Universität Dresden und führte eine Studie durch um herauszufinden, wie Aktivitäten in der Coronakrise vor so etwas wie einem Lagerkoller schützen können. Allerdings betont er: »Lagerkoller ist kein Fachterminus. Aus meiner Sicht gibt der Begriff dramatisierend wieder, wie es einem gehen kann, wenn einem die Entfaltungsmöglichkeiten fehlen.«

In seiner Studie hat Hoyer 3.613 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus einer Liste von 99 Aktivitäten diejenigen auswählen lassen, die ihnen positiv oder sinnvoll erscheinen. Vorher und nachher sollten sie ihre Stimmungen auf einer Skala einordnen. Dabei hat Hoyer herausgefunden: Allein durch das Bearbeiten der Liste haben die negativen Stimmungen nachgelassen. Vielleicht liegt das daran, dass die Teilnehmenden durch die Liste das Gefühl hatten, es gebe genügend Aktivitäten, die man auch in der sozialen Isolation ausführen kann.

»Die am meisten ausgewählten Aktivitäten waren übrigens Filme schauen, Hausarbeit oder einen Spaziergang machen, also nichts Spektakuläres. Zurzeit kann es durchaus sinnvoll sein, fernzusehen, damit einem nicht die Decke auf den Kopf fällt«, sagt Hoyer.

Strukturverlust

Schon nach wenigen Wochen in sozialer Isolation hatte ich das Gefühl, ich habe alles schon gesehen – alles im Haus, alles rundum, alles auf Netflix. Je länger die Ausgangsbeschränkungen andauern, umso stärker fällt mir auf, wie viel dünnhäutiger ich werde, wenn ich nur zuhause rumsitze. Wie sehr ich Umarmungen von Freunden vermisse und das Gefühl, dass das Leben weitergeht. In manchen Nächten bin ich wach bis 6 Uhr früh, weil ich das Gedankenkarussell in meinem Kopf nicht anhalten kann. Ich vermute, es liegt daran, dass ich abends zu lange in das blaue Licht meines Handys starre, und beschließe, mein Telefon früher auszumachen. Doch es ändert nichts.

»Der Verlust der täglichen Routinen und der Kontrolle über unsere Entscheidungen löst Stress aus.«

Jürgen Hoyer

Meine Mutter meint, vielleicht sei ich einfach aus meinem normalen Rhythmus gefallen und könne deshalb nicht schlafen. Und Jürgen Hoyer sagt: »Der Verlust der täglichen Routinen und der Kontrolle über unsere Entscheidungen löst Stress aus.« Struktur sei aber sehr wichtig für unser optimales Leistungsniveau: »Wir teilen den Tag in Teiletappen, in denen wir etwas schaffen. So sammeln wir Erfolgserlebnisse und sind abends zufrieden«, sagt Jürgen Hoyer. »Geht diese Struktur verloren, erleben wir das als Belastung.«

Stress lässt den Cortisolspiegel ansteigen, der Blutdruck erhöht sich, das Immunsystem wird geschwächt. Das Stresshormon kann sich sogar negativ auf die Lern- und Gedächtnisleistung auswirken. Ich weiß, dass Überforderung Stress auslösen kann. Neu ist mir, dass das auch beim Gegenteil vorkommen kann: Langeweile und Monotonie.

Nichts als Gras

Der 23. März 1857 war der letzte Tag, den Mollie Dorsey in ihrer Heimatstadt Indianapolis verbrachte. Es war ein kalter Tag, schrieb sie in ihr Tagebuch, das 1959 unter dem Titel Mollie: The Journal of Mollie Dorsey Sanford in Nebraska and Colorado Territories, 1857-1866 erschien. Sie war gerade 18 Jahre alt, als sie mit ihren Eltern und Geschwistern in den Westen nach Nebraska aufbrach. Dorsey schrieb: »Es ist etwas Faszinierendes in dem Gedanken, ein neues Leben anzufangen, eine so vollkommene Veränderung zu erleben.« Als sie dann aber zum ersten Mal aufwachte in Nebraska City, war sie nicht sicher, ob sie träumte oder ob das wirklich ihr neues Zuhause sein sollte: »Wenn ich aus meinem Fenster schaue, sehe ich keinen Beweis für Zivilisation, Häuser und Menschen.«

Im 19. Jahrhundert zogen viele Siedler in den Westen der USA, in scheinbar endlose Weite und Einsamkeit. Es gab damals kaum Städte und Verkehrswege, kaum Kontakt zu anderen Menschen, die Winter waren lang, die Sommer heiß, ständig riss der Wind an dem Ozean aus Gras. Viele Siedler kamen aus der Stadt und es fiel ihnen schwer, sich anzupassen an dieses völlig andere Leben in dieser Umgebung aus Nichts.

Mollie Dorsey verbrachte ihre Tage, indem sie Hausarbeiten erledigte und Kartoffelkäfer tötete, die sich über die Ernte hermachten. Manchmal schrieb sie wochenlang nichts in ihr Tagebuch, die Langeweile ist keine gute Erzählerin. Einmal schrieb sie: »Ich gehe so selten raus, ich habe nichts, worüber ich schreiben kann, und manchmal werde ich müde davon, selbst das Thema zu sein.« Als sie 19 wurde, fühlte sich Dorsey, als wäre sie in wenigen Monaten um Jahre gealtert. An Weihnachten gab es keine Geschenke, weil es nichts zu besitzen gab. In ihrem Tagebuch notierte sie, sie wolle was Nettes schreiben, könne aber nicht.

Wenn die Umgebung in den Tod treibt

Das Phänomen, das viele Siedlerinnen und Siedler zu jener Zeit erlebten, war so etwas wie ein Lagerkoller in der Weite. Es hatte einen eigenen Namen: Präriefieber. Es äußerte sich in Depressionen und trieb einige Siedler zurück in den Osten, andere in den Tod.

Die Umgebung sei ein signifikanter Faktor für suizidales Verhalten, lese ich in einem Bericht des Canadian Psychiatric Association Journal von 1975, in dem es um Suizid und versuchten Suizid im Yukon-Territorium geht. Dort heißt es: »Der extrem kalte Winter und die kurzen Tage setzen alle unter Stress und viele leiden unter Cabin Fever,«– so heißt der Lagerkoller im Englischen – »einer heimtückischen Depression, die eine Folge des langwierigen Eingesperrtseins in einer sensorisch und sozial monotonen Umgebung zu sein scheint.«

Die sensorisch und sozial monotonste Umgebung, die mir einfällt, ist eine Einzelzelle in einem Gefängnis. Es gibt Schätzungen, dass allein in den USA mehr als 100.000 Menschen in Einzelhaft sind. Einer davon, lese ich in einem Bericht von Amnesty International, war Alexis Machado, genannt Alex.

Nichts als Einsamkeit

Alex Machado starb durch Erhängen, so steht es in seinem Obduktionsbericht. Doch das ist nicht der wahre Grund für seinen Tod.

1999 wurde Machado wegen eines Raubüberfalls und einer Schießerei zu lebenslanger Haft verurteilt. Die ersten elf Jahre saß er im Kern Valley State Prison in Kalifornien ab. Dann wurde Machado verdächtigt, Mitglied einer Gang zu sein. Gangmitglieder gelten als besonders gefährlich, es wird befürchtet, dass sie Nachrichten an Gangmitglieder außerhalb der Gefängnismauern schmuggeln und ihnen Mordaufträge weitergeben könnten. Am 17. Februar 2010 kam Machado ins Gefängnis Pelican Bay. Pelican Bay ist das einzige Supermax-Gefängnis in Kalifornien: »super-maximum security« bezeichnet eine Art Hochsicherheitsverwahrung für Schwerstkriminelle.

»Wenn überhaupt, dann gibt es nur wenige Formen der Gefangenschaft, die so viele psychologische Traumata hervorrufen.«

Craig Haney

Der Sozialpsychologe Craig Haney von der University of California in Santa Cruz hat mit 100 Insassen von Pelican Bay gesprochen. 2003 schrieb er: »Wenn überhaupt, dann gibt es nur wenige Formen der Gefangenschaft, die so viele psychologische Traumata hervorrufen.« Supermax-Insassen werden in Isolationshaft gehalten, sie werden ausgeschlossen von normalen Routinen und Gruppenaktivitäten, abgesondert von der Welt und anderen Menschen. 22 bis 24 Stunden am Tag verbringen sie in ihren Zellen. Wenn sie mal nach draußen kommen, sehen sie bloß ein Blinzeln des Himmels.

In seinen Befragungen stellte Haney fest, dass 91 Prozent der Insassen unter Angststörungen und Nervosität litten. 88 Prozent berichteten über Kopfschmerzen, 84 Prozent waren chronisch müde, ebenso viele hatten Schlafprobleme. Außerdem neigten die meisten Gefangenen zum Grübeln und zu irrationalem Zorn.

Kein Weg zurück

Nach einem Jahr in Isolationshaft litt Alex Machado unter Angstgefühlen und Paranoia. Er fühlte sich beobachtet und vermutete Kameras und Wanzen in seiner Zelle, die ihn aushorchten. Und er fing an, ein Klopfen an der Wand zu hören. Irgendwann glaubte er, seine Gedanken würden kontrolliert, so steht es auf Solitary Watch, einer Webseite, die Recherchen über die Bedingungen in Einzelhaft in den USA veröffentlicht.

Das Leben in Isolationshaft, schreibt Haney, wird von Wärtern und Gefängnisdirektoren so stark kontrolliert, dass Gefangene verlernen, mit Freiheiten umzugehen. Der menschliche Kontakt wird so stark begrenzt, dass sie irgendwann eingeschüchtert sind von anderen Menschen und sich vor ihnen vollends zurückziehen. Das Leben fühlt sich so unwirklich an, dass die Insassen manchmal Streit provozieren, nur um sich zu beweisen, dass sie noch existieren. Aus diesem Leben gibt es für viele keinen Weg zurück in die Normalität – auch nicht, wenn sie aus der Haft entlassen werden.

In extremen Fällen schaffen Gefangene in Isolation Fantasiewelten, schreibt Haney: »Diese Umgebung ist so schmerzhaft, so bizarr, es ist so unmöglich, darin einen Sinn zu sehen, dass sie ihre eigene Realität kreieren.«

Am 12. Juni 2011 drohte Alex Machado, sich das Leben zu nehmen. Anstatt ihn zu behandeln, ließ man ihn im Isolationstrakt. Am 24. Oktober 2011 schrieb er: Ich liebe dich, Jesus Christus & ich liebe dich, Gott. Meine Familie & alle, die ich kenne. In Liebe, Alex. Er erhängte sich mit Stoffstreifen seiner Matratze.

Neue Möglichkeiten

Es ist mein 47. Tag im ausgangsbeschränkten Italien, als ich Machados Geschichte lese. Ich fühle mich plötzlich unglaublich privilegiert, weil ich Menschen um mich habe, die ich liebe, weil ich von zuhause arbeiten und mich die Langeweile nicht so leicht überfallen kann. Weil ich Zeit habe, darüber nachzudenken, was ich will im Leben, und ich meinen Bewegungsradius von Woche zu Woche vergrößern darf.

Und ich fühle mich schlecht, weil ich trotzdem das Gefühl habe, mir fällt die Decke auf den Kopf. Das erste Mal an Tag 9: Während des Mittagessens stochere ich in meinem Brokkoli, breche zusammen und weine. Vermutlich liegt das daran, dass ich so viel Zeit habe, über mich nachzudenken. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich den Glauben daran verliere, dass sich die Situation bald ändert. Irgendwo im Internet lese ich, dass das Gehirn vor allem fokussiert, worüber wir uns Sorgen machen. In beengten Situationen macht es die Beengtheit noch viel größer.

Ich höre mir also Podcasts über positives Denken an. Die Redner betonen ständig, wie wichtig es ist, im Hier und Jetzt zu leben. Wie soll das gehen, wenn ich in einer Warteschleife feststecke, wenn sich das Datum, an dem die Beschränkungen aufgehoben werden sollen, wieder um Wochen nach hinten verschiebt?

In der Warteschleife

An Tag 37 sagt mir Florens Goldbeck, dass es nicht ungewöhnlich sei, dass ich grüble oder Angst habe. »Die aktuelle Situation schränkt drei Grundbedürfnisse ein«, sagt er, »das Bedürfnis nach Autonomie, nach sozialer Verbundenheit und nach Kompetenzerleben.«

Goldbeck ist Diplompsychologe am Universitätsklinikum Tübingen und forscht mit Kolleginnen und Kollegen daran, wie man Menschen in der sozialen Isolation unterstützen kann. Dazu haben sie Übungen zusammengestellt aus der positiven Psychologie und der Achtsamkeitstherapie. Er erklärt mir, in der Achtsamkeitstherapie gehe es darum, die eigenen Gedanken zu beobachten und sie anzunehmen – auch negative Gedanken. Man solle sich dabei bewusst werden, dass die Gedanken nur ein Teil von einem sind und nicht das gesamte Ich bestimmen. Und er erzählt von einer Übung aus der positiven Psychologie, in der es darum geht, sich jeden Tag zu sagen, wofür man dankbar ist.

Heute ist mein 50. Tag im ausgangsbeschränkten Italien und ich bin dankbar, dass die Beschränkungen gelockert wurden und ich mich im Gemeindegebiet wieder frei bewegen darf. In drei Tagen soll ich mich auch in der Region wieder frei bewegen dürfen. Ich bin schon ganz nervös, weil mein Bewegungsradius fast um das 270-fache wächst und ich dann wieder Freunde besuchen, tagelange Wanderungen an anderen Orten machen und endlich die Pläne umsetzen kann, die ich seit eineinhalb Monaten schmiede. Wenn ich darüber nachdenke, macht mir diese Vielzahl an Möglichkeiten ein wenig Angst.


Text
Lissi Pörnbacher ist Redakteurin beim Science Notes Magazin.

Illustration
Julia Krusch ist freie Illustratorin aus Berlin.