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Das Rätsel der Ankunft

Die Generation der Millennials ist so viel unterwegs wie keine andere. Aber wovor laufen diese Vielreisenden eigentlich davon?

«Wo treibst du dich gerade rum?»

Das ist die erste Frage, die Freunde mir stellen, wenn sie mir eine Nachricht schreiben. Bekannte wünschen mir alles Gute zum Geburtstag mit dem Beisatz «… wo auch immer du gerade bist». Es gab Monate im vergangenen Jahr, in denen ich nie länger als fünf Tage am gleichen Ort und die Butter in meinem Kühlschrank immer ranzig war.

Ich bin nicht die Einzige, die so lebt. Wenn ich mit Freunden spreche, erzählen sie zuerst von ihrem Yogatrip nach Bali oder wie sie sich in Kalifornien selbst gefunden haben. Wenn ich durch meinen Instagram-Feed scrolle, sehe ich sie auf Partys in Argentinien oder surfend an der Küste Portugals. Aus einer Umfrage der Unternehmensberatung Deloitte geht hervor, die Welt zu entdecken sei das oberste Ziel der Generation Y – dazu gehören Personen der Jahrgänge 1981 bis 1998, also auch ich.

Wir wollen in Indien Elefanten sehen und in Australien arbeiten, bevor wir uns auf einen Ort festlegen, an dem wir die Windeln unserer Kinder wechseln. Wir wollen etwas erleben, bevor wir ankommen. Wenn ich in diesem Text «wir» schreibe, dann meine ich in erster Linie uns Millennials – also die Generation, von der es heisst, sie gehe Entscheidungen gern aus dem Weg und halte sich alle Möglichkeiten offen.

Die Zahlen des Bundesamts für Statistik zeigen: Im Jahr 2015 legte ein Schweizer im Durchschnitt 24’849 Kilometer zurück, fast die Hälfte davon im Ausland. Am meisten Kilometer im Jahr erreichen 25- bis 44-Jährige, sie fahren durchschnittlich 31’335 Kilometer, knapp dahinter liegen die 18- bis 24-Jährigen.

Ich habe überschlagen, wie viele Kilometer ich am Ende dieses Jahres in Zügen, Autos, Bussen und Flugzeugen zurückgelegt haben werde. Es sind mehr als 40’000. Wie viele Stunden ich in Verkehrsmitteln verbringe, traue ich mich gar nicht nachzurechnen. Freunde und Bekannte fragen mich: Ist es nicht anstrengend, ständig an einem anderen Ort zu sein? Sie raten mir, ich solle doch mal irgendwo ankommen.

Was sie mir allerdings nicht sagen können, ist: Wie macht man das überhaupt – ankommen? Welche Schritte sind notwendig, um das zu erreichen? Und was bedeutet es überhaupt, anzukommen? Meine Freundin Katharina, 32, zog vor einem Jahr nach Rostock, an den Ort, an dem sie geboren wurde, sie sagt: «Das ist eine weitreichende Frage, über die ich noch einmal nachdenken könnte.» Nach kurzem Zögern sagt sie: «Nach den vielen Unruhephasen in meinem Leben habe ich mich niedergelassen und meinen Mittelpunkt gefunden. Für den Moment habe ich das Gefühl – das kann sich natürlich alles noch mal ändern –, angekommen zu sein.»

Diese Unruhephasen, von denen sie spricht, die kenne ich.

Vom Gehen

Das erste Mal ging ich weg aus meinem Zuhause in Südtirol, um zu studieren. Das zweite Mal wegen eines Jobs, das dritte Mal, weil ich mich beruflich weiterentwickeln wollte. Ich bin in meinen 28 Jahren neunmal umgezogen, sechsmal in eine neue Stadt. Ich ging, weil die Provinz nicht bieten konnte, wonach ich suchte. Weil das Leben zu leise war. Weil es zwar viel Platz gibt in Südtirol, aber für mich nicht genug.

Laut dem «International Migration Report» von 2017 lebt weltweit jede 30. Person nicht mehr in ihrem Herkunftsland. Das sind 258 Millionen Migranten weltweit, 106 Millionen davon sind in Asien geboren, 61 Millionen in Europa. Die Zahl ist seit der Jahrtausendwende um 40 Prozent gestiegen. Menschen verlassen oft wegen Kriegen oder Katastrophen ihre Heimat, aber nicht nur. Sie verlassen sie auch, um sich anderswo ein neues Leben aufzubauen – in der Hoffnung, dass es ein erfüllteres, erfolgreicheres sein wird.

Vor fast einem Jahr bin ich nach Tübingen gezogen, eine kleine Stadt in Deutschland. Die Arbeit hat mich hierhergebracht. Die Arbeit ist es auch, die mich hier hält. Wenn Freunde mich besuchen, schwärmen sie, wie schön ich es doch habe an diesem Ort. Ich blicke mich um, und alles, was ich sehe, sind die immer gleichen Häuser, an denen ich Tag für Tag vorbeilaufe, die gleichen Wege, auf denen ich mich ungezählte Male verlor, bis ich die Struktur der Stadt endlich verstanden habe, die gleichen Bars, in denen immer die gleichen Menschen tanzen. Was ich sehe, ist Stillstand. Dabei ist es nicht so sehr die Stadt, die stillsteht, sondern ich. Ich fühle mich, als hätte ich mein Leben auf Pause gedrückt.

In der Psychologie ist die Rede von psychischer Sättigung, wenn man eine Tätigkeit so oft wiederholt, bis man eine Abneigung dagegen entwickelt und die Leistung abnimmt. Der Ausweg: Man verlässt die Situation, die die Sättigung auslöst.

In den Zwanzigern wollen wir weg von allem, was Alltag ist, weil Alltag Monotonie heisst, Langeweile, vielleicht sogar Gefangensein. Wir wollen hin an einen Ort, an dem die Tage unvorhersehbar sind und wir frei. Wir wollen neue Reize, bloss keine Gewöhnung. Kein Ort kann diesen Ansprüchen auf Dauer gerecht werden – darum müssen es immer wieder neue Orte sein.

Die Psychologen Klaus Dieter Hartmann und Gudrun Meyer beschreiben es so: «Der zeitweilige Wechsel der Reize steigert die Aufnahmefähigkeit und hebt das energetische Niveau der Reaktionen. Dasselbe gilt dann, wenn man vom Urlaub zurückkommt und die ‹alten› Reize ‹neu› erfährt, bis nach längerer Zeit der Gewöhnungs- und Sättigungseffekt wieder eintritt.»

Immer wenn ich mit Freunden durch Tübingen laufe, versichere ich ihnen, ich hätte wirklich versucht, hier anzukommen. Ein Blick in mein Zimmer lässt mich zweifeln, ob das wirklich stimmt. Die Wände sind weiss. Zwei Koffer stehen auf dem Schrank, eine grosse Reisetasche auf dem Boden, daneben ein kleiner Rucksack. Ich bräuchte zwei Stunden, um all meine Sachen zu packen.

Vom Suchen

Freitag, 30. August: Ich laufe zum Zug, quetsche mich vorbei an Touristen, die Häuserfassaden fotografieren. Den Weg zum Bahnhof würde ich vermutlich auch blind finden, doch die Zeit, die ich dahin brauche, unterschätze ich meistens. Um 8.35 Uhr geht mein Zug nach Bern.

Freitag, 6. September: Ich laufe zum Zug, quetsche mich vorbei an Touristen, die Häuserfassaden fotografieren. Um 7.00 Uhr geht mein Zug nach Heilbronn, um 16.57 Uhr der nach Innsbruck. Zwei Tage später fahre ich nach Budapest, fünf Tage danach nach Berlin.

Montag, 16. September: Ich schlurfe vom Bahnhof nach Hause, quetsche mich vorbei an Touristen, die Häuserfassaden fotografieren. Es ist noch hell, als ich zu Hause ankomme. Ich ziehe die Vorhänge zu.

Mittwoch, 25. September: Ich laufe zum Zug, quetsche mich vorbei an Touristen, die bunte Häuserfassaden fotografieren. Um 9.37 Uhr geht mein Zug nach Hamburg. Ich tippe eine Nachricht an eine Freundin: «Bin gegen 17 Uhr da – wenn alles gut geht.» Diesen Zusatz benutzen alle Reisenden in Deutschland.

Als ich am Montagmorgen, 30. September, gegen 6 Uhr in Tübingen aus dem Nachtzug steige, kann ich meine Beine kaum noch dazu bewegen, die Treppen zu meiner Wohnung im zweiten Stock hochzusteigen. Mein steifer Nacken ermahnt mich, nie wieder einen Nachtzug zu buchen. Als ich endlich in meinem Bett liege – der Wecker bietet mir fünf Stunden an – und nicht einschlafen kann, schwöre ich mir, dass ich am nächsten Wochenende in Tübingen bleibe.

Als ein Freund mich fragt, ob ich mit ins Tessin komme, überlege ich hin und her. Als er mir ein Foto schickt vom Luganersee, kann ich dem Impuls nicht widerstehen, nach Zugtickets zu googeln. Schlafen, denke ich, könnte ich auch im Zug. Es gibt eine Krankheit, die meine Generation befällt. Sie setzt sich zusammen aus vier Buchstaben und einer grossen Angst: FOMO – Fear of missing out. Die Angst, etwas zu verpassen. Die Angst, es könnte mehr geben irgendwo – oder etwas Besseres. Diese Angst verwandelt uns in Rastlose und scheucht uns bis an die Enden der Welt. Aus meinem Rucksack krame ich einen Notizzettel, auf den ich geschrieben habe: «Ich reise, weil ich will, dass was passiert. Ich kann es nicht ertragen, daheim zu sitzen, während die Welt an mir vorüberzieht.» Ich muss die Sätze im Dunkeln geschrieben haben, was sonst noch auf dem Zettel steht, kann ich nicht entziffern.

Beim Schriftsteller Matthias Politycki lese ich: «Der Reisende ist der Suchende per se, und was er auf seiner Suche auch findet, es spornt nur zu weiterer Suche an. Im Grunde sind wir auf immerwährender Reise, die Zeit zu Hause ist nichts als kurze Rast.» Diese Sätze sind einem Freund aus Zürich wie aus der Seele geschrieben. Als ich ihn anrufe, ist er gerade zurück aus Japan. Er lebt in einem Eineinhalb-Jahres-Rhythmus: nie länger als eineinhalb Jahre in derselben Wohnung, im selben Job, mit derselben Freundin. Es spielt sich immer ungefähr gleich ab: Die ersten sechs Monate ist man heftig verliebt, in die neue Freundin, den neuen Job, die neue Wohnung. Dann kommt man langsam an, und nach einem Jahr beginnen die Zweifel. Seine einzige Angst: Stillstand. Er mag es, beim Aufstehen nicht zu wissen, wie der Tag verlaufen wird. Er sagt: «Es ist anstrengender zu bleiben – weiterzuziehen ist die einfache Variante.»

In den vergangenen zwanzig Jahren ist weltweit die Zahl der Menschen, die ins Ausland reisen, von 605 Millionen auf 1,4 Milliarden gestiegen, steht in einem Bericht des deutschen Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie. «Menschen wollten immer schon reisen, die Nachfrage ist in den vergangenen Jahren gestiegen, weil mehr Menschen reisen können. Dem Westeuropäer steht die Welt offen», sagt der Wirtschaftspsychologe Martin Lohmann. Er ist Berater der Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen (FUR) und untersucht seit dreissig Jahren das Reiseverhalten der deutschsprachigen Wohnbevölkerung ab 14 Jahren.

Die häufigsten Motive, warum sie reisen: Sonne, Abstand zum Alltag, Entspannung, Kraft sammeln, frei sein. Frei zu sein ist das häufigste Motiv der 14- bis 29-Jährigen, es folgen Entspannung, Abstand vom Alltag und viel erleben, viel Abwechslung. Wir reisen in die Fremde, weil wir suchen, was es ausserhalb der eigenen Umwelt so gibt, wir suchen Aufregung, Nervenkitzel, eine neue Perspektive, neue Antworten auf alte Fragen. Dafür nehmen wir in Kauf, stundenlang in viel zu engen Sitzen zu verbringen, in wenigen Tagen Zehntausende von Schritten zu machen, weil wir innerhalb eines verlängerten Wochenendes all das sehen wollen, wofür ein Monat nicht reichen würde. Wir geben ein Stückchen Sicherheit auf, weil wir an neuen Orten nicht wissen, was uns erwartet, weil das Leben dort anders funktioniert. Wir nehmen hohe Kosten hin, schliesslich geht es um Erlebnisse, die unbezahlbar sind. Damit das Gepäck nicht zu schwer wird, speichern wir unsere Leben auf unseren Smartphones. So können wir von überall durch Erinnerungen an die Menschen scrollen, die wir zurücklassen, wir können ihre Nummern wählen, wenn wir uns einsam fühlen und jemandem erzählen wollen, wie viel wir unterwegs erleben.

Der Psychologe Marvin Zuckerman definierte die Theorie des sensation seeking: Sensationssucher jagen nach verschiedenen, neuen, intensiven Eindrücken und sind bereit, physische, soziale und finanzielle Risiken dafür auf sich zu nehmen. Für mich ist Reisen mehr als die Suche nach Sensationen, für mich ist es immer auch eine Art Weglaufen. Weil ich mich nicht damit auseinandersetzen will, was zu Hause wartet. Weil dort die Frage steht: Wie will ich leben? Wo und mit wem? Weil dort die Frage steht: Wo gehöre ich hin?

Vom Sich-Verirren

Es gibt Gefühle, die man erst bemerkt, wenn sie nicht mehr da sind. Ich habe nie bewusst wahrgenommen, dass ich irgendwo hingehörte. In ein Land. Zu einer Gruppe von Menschen. Ich habe es nie infrage gestellt. Bis es mir fehlte. Es war eine Mischung aus Heimweh und Einsamkeit, die sich Mitte des vergangenen Jahres in mir ausbreitete. Manchmal, wenn ich aufwachte, bevor es hell war, sah ich mich erschrocken um. Ich brauchte einen Moment, um mich zu erinnern, wo ich war – weil sich der Blick aus dem Fenster, die Farbe der Gardinen, der Einfallswinkel des Tageslichts im vergangenen Jahr so oft geändert hatten. Ich bekam das Gefühl, dass ich hier nicht hingehöre.

Im Französischen lässt sich dieses Gefühl in ein Wort übersetzen: dépaysement. Pays bedeutet «Land», dépayser «verunsichern» oder «verwirren». Dépaysement bezeichnet eine Art von Desorientierung, die man in einem fremden Land erfährt. John Vinocur, ein Autor der «New York Times», beschreibt es als das Gefühl, nicht erdrückt zu werden von der Vertrautheit der Dinge. Vielleicht ist es genau das, was mir fehlt: die Vertrautheit der Dinge. Darum koche ich Südtiroler Gerichte, meine Gerstensuppe schmeckt mittlerweile fast so gut wie die meines Vaters, und kaufe überteuertes Schüttelbrot. Ich telefoniere stundenlang mit Südtiroler Freunden, um Dialekt sprechen zu können. Vielleicht ist es selektive Wahrnehmung, doch überall liegen Zeitschriften und Bücher, die sich nur mit einem Thema zu beschäftigen scheinen: Heimat.

Ich lese das Buch «Tribe» von Sebastian Junger und bleibe an einem Absatz hängen: «Wer in einer modernen Stadt oder Vorstadt lebt, kann zum ersten Mal in der Geschichte einen ganzen Tag – oder ein ganzes Leben – verbringen und dabei überwiegend völlig fremden Menschen begegnen. Er kann von anderen umgeben sein und sich dennoch zutiefst und bedrohlich einsam fühlen.» Dieser Entfremdung stellt der Soziologe Hartmut Rosa einen Begriff entgegen: Resonanz. «Resonanz ist ein Zustand, eine Art und Weise des Verbundenseins mit der Welt, bei der tatsächlich in uns so was zu schwingen beginnt», sagt er in einem Interview im Deutschlandfunk.

Resonanz ist, eine Art Heimatraum finden, ein Sicheinlassen auf die Welt – das passiert nicht, wenn man ständig von Ort zu Ort reist. Laut Rosa gibt es zwei Orientierungen, die wir verfolgen: «Das eine ist die Steigerungsorientierung, also noch ein bisschen mehr erreichen, ein bisschen mehr kriegen, auch ein bisschen mehr machen aus der Welt; das andere ist, Resonanzachsen aufrechtzuerhalten.» Resonanzachsen, das können Beziehungen sein, vertraute Gefühle, Musik oder Orte. Sie können uns einengen, aber sie geben Halt und Stabilität. Sie schaffen einen Ort, an den wir zurückkommen können.

Vom Zurückkehren

Ich halte nichts von Kalendersprüchen, doch einer hat mich die vergangenen Jahre über begleitet: «Ausserhalb deiner Komfortzone wirst du wachsen.» Er hat mich angetrieben, weggeführt. Ich habe den Spruch als Ausrede benutzt, um mir nicht eingestehen zu müssen, dass es eigentlich das Nachhausefahren war, das ausserhalb meiner Komfortzone lag. In den Nächten, bevor ich nach Hause fuhr, konnte ich nicht schlafen. Schon Wochen davor verabredete ich mich mit Freunden, damit ich unter allen Umständen beschäftigt war und unangenehmen Fragen von Bekannten ausweichen konnte, die wissen wollten, wann ich denn heiraten und sesshaft werden würde, oder unangenehmen Begegnungen mit ehemaligen Freunden, von denen ich mich emotional entfernt hatte.

«Jede Reise ist ein Fluchtversuch aus dem Gefängnis der Identität», schreibt der Schriftsteller Hans Christoph Buch. Mein nächster Fluchtversuch führt mich an den Ort, vor dem ich geflohen bin. Nach Hause. Ich besuche meine Freundin Maria Laura, 30, Yogalehrerin. Jahrelang hat sie aus dem Rucksack gelebt. Vor weniger als einem Jahr ist sie in eine Wohnung in Südtirol gezogen, obwohl sie niemals zurückwollte. Sie scrollt durch die Fotos auf dem Handy. Australien, Indien, Bali, Cornwall, sie sagt: «Gerade tut es mir gut, ein Zuhause zu haben, wo ich die Wege kenne. Ein Zuhause, das Halt gibt und das Gefühl, nicht nur Gast zu sein.» Sie steht unter einer Glühbirne ohne Lampenschirm, auf nacktem Boden. Sie sagt: «Ich weiss nicht, ob es sich lohnt, Lampenschirme zu kaufen oder einen Läufer. Ich weiss nicht, ob ich so lange hier bleibe. Oder ob das der letzte Ort ist, an dem ich lebe.» Zwei Wochen nach unserem Gespräch reist sie nach Bali.

Es ist noch nicht so lange her, drei Jahre vielleicht, da habe ich diese Faszination fürs Reisen nicht verstanden. Damals lebte ich noch in Südtirol und hatte nur selten das Bedürfnis, das Land, in dem ich aufgewachsen bin, zu verlassen. Menschen, die von Fernweh redeten und Reisen als eines ihrer Hobbys angaben, habe ich nie verstanden. Wenn sie mir erzählten, wie sehr sie sich in fremden Ländern weiterentwickelt hätten, verdrehte ich meine Augen. Ich verstand nicht, wonach sie suchten. Vielleicht, weil ich glaubte, ich hätte es längst gefunden: den Ort, an dem ich leben wollte, die Menschen, mit denen ich leben wollte. Und den Mann. Dann trennten wir uns. Und ich konnte nicht mehr sein, wo wir waren.

Kurz danach fand ich eine erträgliche Distanz: einen Ozean Abstand. Ich erinnere mich an das grossartige Gefühl, als ich auf dem Boden des New Yorker Flughafens stand und der grimmige Typ von der Einreisekontrolle mich durchliess. Die Tage und Nächte fühlten sich so unwirklich an, als wäre ich in einer Schneekugel. Zum ersten Mal wurde mir klar: Ich kann mich allein zurechtzufinden in der Fremde. Mein Liebeskummer holte mich wieder ein, als ich zurück nach Europa flog und der Abstand zwischen mir und dem, wovor ich weggelaufen war, kleiner wurde. «Flucht führt eher zu einer ständigen Sehnsucht nach einem Zuhause, das aber negativ besetzt ist. Man bleibt immer ein Reisender», erklärt mir die Psychologin Madeleine Leitner. Es dauerte eine Weile, bis ich mir eingestand: Mein emotionaler Rucksack löst sich nicht auf, nur weil ich mir keine Zeit zum Nachdenken gebe.

Ein Freund sagt: «Lass los. Verzeih dir selbst, dann kannst du ankommen.» Ich sage, ich weiss nicht, wie das geht. Die Wahrheit ist: Es gab eine Zeit, in der ich dachte, ich sei angekommen. Das Gefühl hat mich eingeengt und auf der Stelle gehalten. Darin schwang etwas Dauerhaftes mit, das mir Angst machte. Es fühlte sich an, als würde ich inmitten eines Labyrinths aus meterhohen Hecken stehen. Mit jeder Reise schlug ich ein Stück Weg in das Gebüsch. Irgendwann war ich draussen. Seitdem werde ich das Gefühl nicht los, ich habe etwas Wichtiges vergessen da drin – und der Weg zurück ist zugewachsen.

Vom Ankommen

Die Antworten auf meine Frage, was denn «ankommen» bedeutet, kommen erst nach Minuten – manchmal dauert es Tage. Oder sie bleiben ganz aus.

«Ankommen heisst, genau wissen, dass das der richtige Ort ist, ohne es begründen zu können», sagt meine Freundin Nora.

«Ankommen bedeutet für mich nach den Jahren von Studium, was lernen, sich ausprobieren, hierhin und dahin reisen, zu schauen, was ich eigentlich für ein Mensch bin, was ich will im Leben – also jedenfalls jetzt, zu diesem Zeitpunkt – und auch was für Menschen ich in meinem Leben haben möchte und welche nicht», sagt Katharina.

«Ankommen musst du in dir selbst», sagt Maria Laura, die Yogalehrerin. «Es besteht darin, im Hier und Jetzt zu leben. Oder den verdammten Läufer zu kaufen.»

«Ankommen kann man vielleicht, wenn man das Gefühl hat, nichts mehr zu verpassen», antwortet die Psychologin Madeleine Leitner.

«Ankommen verlangt nach dem Unterwegssein. Es ist ein vorübergehender Zustand, so wie wenn man am Gipfel eines Berges ankommt und in dem Moment einfach nur da ist. Diesen Moment kann man speichern als Erinnerung, doch er wird nicht bleiben. Das wäre auch beängstigend», sagt der Psychologe Martin Lohmann.

«Ankommen heisst, aus dem Zug steigen, und jemand holt mich ab», sagt meine Schwester. Sie fragt mich, was es denn für mich bedeutet. Ich spule die Standardantwort meiner Generation ab: «Das versuche ich erst rauszufinden.» Bevor ich anfing, diesen Text zu schreiben, habe ich notiert, was ich brauche, um anzukommen. Zwei Punkte habe ich aufgeschrieben: einen eigenen Raum haben und Leute um mich, die mich verstehen – am besten dialekttechnisch und emotional.

Nun schaue ich mir diese Punkte wieder an und überlege, ob noch etwas dazugekommen ist. Gute Erinnerungen, vielleicht. Und ich muss es wirklich wollen. Denn anzukommen ist auch eine Entscheidung. Aber eine, die wir nur widerwillig und nicht endgültig treffen wollen. Wir geben ausweichende Antworten, fügen in unsere Sätze Relativierungen ein und sagen: zurzeit, jetzt gerade, das kann sich ändern. Vielleicht ist Ankommen eine Sehnsucht, die wir gar nicht erreichen wollen.

In meinem Zimmer in Tübingen sitzend, habe ich Angst davor, ein Ende zu finden für diesen Text. Weil das bedeuten müsste, ich habe gefunden, wonach ich suchte. Ich müsste doch eine Antwort haben. Müsste ich nicht angekommen sein?

Die Frage spinnt sich durch meine Gedanken, während ich Bilder an die Wand meines Zimmers hänge. Es sind keine Bilder von Orten, sondern von Menschen, die mir etwas bedeuten. In den kommenden Wochen werden noch mehr dazukommen. Ich hole einen der beiden Koffer von meinem Schrank und drücke auf «Play».

Henning May, 28, von der Band AnnenMayKantereit singt: «Und ich habe Fernweh ohne Ende, Fernweh für das Fremde, weil ich mir selber fremd geworden bin.»


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