Es muss nicht immer Berlin-Mitte sein. Gründer in der Provinz profitieren von günstigen Löhnen und der Verbundenheit ihrer Mitarbeiter. Ein Besuch im mittelhessischen Lauterbach.
Im Lauterbacher Gasthof „Zur Wachtel" herrscht um zwölf Uhr Hochbetrieb. Die Kellnerin stemmt Tabletts mit Schnitzeln und Pommes, am Nachbartisch wird zum Dessert noch Kaffee serviert. Klaus Wegener hat sich fürs flotte Tagesgericht entschieden: Hähnchen-Cordonbleu mit Gemüse. Mit seinem Dreitagebart, der Wuschelfrisur und dem lässigen Karohemd würde der 31-Jährige besser in eine Berliner Szenebar passen. Auch mit seiner Wortwahl. Wegener erzählt von seinem Unternehmen Caseable, das Schutzhüllen für Laptops, E-Reader und Smartphones herstellt. Welche „Deadlines" einzuhalten sind, welches Produkt er als Nächstes „launchen" will und mit wem man sich in seiner Branche „connecten" muss. Dann zahlt er und steigt ins Auto - und fährt die zwei Kilometer zurück zu seiner Firma.
Lauterbach im Vogelsbergkreis. Rund 13.500 Einwohner, fünf Supermärkte, vier Banken. Nicht gerade die erste Adresse, die Unternehmern in den Sinn kommt, wenn sie einen Firmensitz suchen. Und doch typischer für die Gründerszene, als man denkt. In Landkreisen wie Ebersberg, Groß-Gerau oder Fürstenfeldbruck werden - bezogen auf die Einwohnerzahl - mehr Firmen gegründet als etwa in Hamburg oder Köln. Unter den zehn aktivsten Regionen finden sich laut dem Institut für Mittelstandsforschung gerade einmal vier Großstädte: Frankfurt, Wiesbaden, Offenbach und Fürth. Es dominieren Kleinstädte und ländliche Gegenden.
Die Gründe liegen oft nahe: Viele junge Firmen ziehen der niedrigeren Kosten wegen aus den Metropolen in die Umgebung. Wer einen Reiterhof, ein Biogaskraftwerk oder eine Hühnerzucht aufmachen will, hat ebenfalls kaum Alternativen zum Land. Doch auch für viele andere Start-ups kann es durchaus attraktiver sein, eher in Prenzlau anzufangen als in Prenzlauer Berg.
So war es auch bei Klaus Wegener, als er 2011 nach einem Standort suchte, wo er seine Schutzhüllen produzieren konnte: „Natürlich dachten wir zuerst an Berlin", erzählt er. Immerhin hatte Caseable seine ersten Gehversuche in New York gewagt: In der Brooklyner Fabrik eines Verwandten durfte Wegener im ersten Jahr nach der Gründung einige Maschinen und Mitarbeiter für seine Produktion nutzen. Nun stand die Expansion daheim an.
Der Traum vom coolen Berliner Start-up platzte für Wegener jedoch schnell: „Wir haben uns 20 Fabriken angesehen, aber nirgends hat es gefunkt. Zu klein, zu teuer." Eine große Halle wäre nur am Rand der Hauptstadt bezahlbar gewesen. „Da war uns klar: Wir landen so oder so auf dem Land."
Warum also nicht in Lauterbach? Der Quadratmeter Fabrikhalle kostet gerade mal 3 Euro Miete pro Monat - inklusive Wasser- und Stromanschluss. Die Gewerbesteuer ist um ein Drittel günstiger als in Berlin. Und wer Arbeitsplätze schafft, erhält Fördermittel vom Land Hessen und der EU, weil der Vogelsbergkreis als strukturschwach gilt, bisher eine halbe Million Euro.
Der Entschluss für die hessische Provinz fiel nicht zuletzt, weil Wegeners Vater hier Deutschlands älteste Hutfabrik besitzt. Anfangs durfte der Junior die Nähmaschinen im elterlichen Betrieb nutzen. Seine Stoffe kauft er zu den gleichen Konditionen wie sein Vater, der schon seit 20 Jahren bei denselben Lieferanten bestellt. Auch die Lage sprach für das idyllische Städtchen zwischen Feldern, Wiesen und Wäldern: In 75 Minuten ist man am Frankfurter Flughafen; nach Bad Hersfeld, wo Verkaufspartner Amazon ein großes Lager betreibt, dauert es gerade einmal eine Dreiviertelstunde. „Für Last-Minute-Aktionen ist das Gold wert, dann fährt schnell jemand die Lieferung rüber", sagt Wegener.
Mittlerweile hat er eine eigene Fertigung eröffnet, in der er zwölf Mitarbeiter beschäftigt. Pro Stunde zahlt er nach eigener Angabe durchschnittlich 11 Euro. In einer Großstadt wie Berlin wäre das nicht üppig. Wenn ein Häuschen im Grünen aber gerade mal 500 Euro Monatsmiete kostet, sieht das anders aus.
Noch wichtiger als der Lohnkostenvorteil gegenüber der Hauptstadt ist Wegener die Loyalität seiner Beschäftigten. Alle sind aus der Gegend, die meisten kennen ihn von klein auf. „Der Urgroßvater, der Großvater und die Mutter meiner Standortleiterin haben schon für meinen Vater gearbeitet. Du weißt, die gehen für dich durchs Feuer." Solche Angestellten seien in Berlin schwer zu finden, meint Wegener. „Gerade in der Logistikbranche sind die Leute für 10 Cent mehr von einem auf den anderen Tag weg." Die Treue seiner Mitarbeiter belohnt Wegener mit Vertrauen. Seinen Audi dürfen alle als Firmenwagen nutzen, er steht offen im Hof, der Schlüssel steckt.
Oft braucht er das Auto eh nicht, die Wege in Lauterbach sind kurz: „Ich setze mich mit unserem Bankkaufmann zusammen, fahre weiter zur Landkreis-Förderung und schaue dann noch kurz beim Notar vorbei. Das alles erledige ich in anderthalb Stunden." Seinen Banker hat er schon mal nach 23 Uhr angerufen, weil er fürchtete, etwas bei den Dokumenten für die Gründerförderung vergessen zu haben. „Der hat das alles noch stundenlang mit mir durchgekaut. Danach konnte ich beruhigt schlafen."
Der Kostenvorteil, das Arbeitskräftereservoir, die persönlichen Beziehungen zählen zu den wichtigsten Vorteilen, die Gründer in die Provinz locken. „Ländliche Gebiete haben viele Vorteile, manche Geschäftsmodelle funktionieren sogar nur dort", sagt Jörn Block, Professor für Unternehmensführung an der Uni Trier.
Natürlich eröffnen viele Gründer ihr Unternehmen dort, wo sie zu Hause sind: Wer daran glaubt, dass es in seinem Heimatdorf Bedarf für eine Autowerkstatt, einen Imbiss, einen Pflegedienst gibt, wird kaum in eine Großstadt ziehen, um seine Pläne umzusetzen.
Doch es gibt noch andere Gründe, warum Jungunternehmer bewusst eine Firma in einem Ort aufbauen, dessen Namen man Fremden erst mal buchstabieren muss. Ein wichtiger Faktor, der Gegenden für Gründer attraktiv macht, sind Fachhochschulen, die oft in Mittelstädten angesiedelt sind. Viele Unternehmer haben hier selbst studiert - und später dort gegründet. „Fachhochschulen sind eine Goldgrube", sagt Block. Sie liefern gut ausgebildete Fachkräfte und sind zentral für Branchennetzwerke.
Über 500 solcher Cluster zählt Deutschland. In Jahrzehnten haben sich hier spezielle Kompetenzen entwickelt. Zum Beispiel im Kreis Miesbach, wo sich einige Pharmafirmen angesiedelt haben. Hier in Oberbayern produzieren Größen wie Hexal und Sandoz Medikamente, gleich nebenan fertigt ein Verpackungshersteller Tablettenschachteln. Dieses Netzwerk zog ein paar Jahre später auch einen der größten europäischen Hersteller für Wärme- und Wundheilpflaster in die Region. Und Fachkräfte aus Medizin und Pharmazie dazu.
Auf dem Land zu gründen hat aber auch Nachteile. Das knappe Kulturangebot und die mangelnde Abwechslung schreckt vor allem kreative Geister ab, das Großstadtleben hinter sich zu lassen. „Daran ändern auch günstige Mieten nichts", so der Unternehmensführungsexperte Block. Doch die kann Miesbach nicht mal bieten. Die Preisexplosion in München macht sich auch hier schon bemerkbar. Berge und Seen schränken die bebaubaren Flächen ein.
Um dennoch Start-ups anzulocken, wirbt Miesbachs Verwaltung mit Netzwerken: Hightech-Gründer können sich mit Ingenieuren von Bosch austauschen, im Nachbarort Holtzkirchen eröffnet bald ein Gründerzentrum. Es soll sich herumsprechen, dass die Gegend um den Tegernsee nicht nur für Rentner attraktiv ist.
Es ist ein mühsamer Kampf: Laut dem Institut der deutschen Wirtschaft Köln hatten 54 Prozent der Firmen auf dem Land 2012 große Schwierigkeiten, Fachkräfte zu finden, in der Stadt nur 33 Prozent. Hinzu kommen in vielen Regionen weit entfernte Autobahnen, Bahnhöfe oder Flughäfen und langsame Datenverbindungen. In vielen ländlichen Regionen taugen weniger als die Hälfte der Internetanschlüsse nach Angaben des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur für Firmenzwecke.
Marketing würde Klaus Wegener deswegen immer in der Großstadt machen. Den Verkauf seiner Schutzhüllen und Laptoptaschen steuert der Lauterbacher von einem Büro in Berlin-Kreuzberg aus. Seine Produkte muss er international bewerben, immer wieder neue Partner finden. Und die kommen nun mal eher in die Hauptstadt als nach Osthessen. Eine Woche im Monat hält er sich eine Woche in Lauterbach auf, zehn Tage in Berlin und die restliche Zeit fährt er zu Terminen in ganz Deutschland. In Berlin unternimmt er mit seiner Freundin dann Sachen, die in Lauterbach unmöglich sind. Zum Beispiel marokkanisch essen gehen.