"Warum sind deine Eltern arbeitslos?" ist eine Frage, die Anna Mayr ganz schlimm findet. Oder Aussagen wie: "Da hast Du dich aber hochgekämpft." Die Autorin hasst solche Kommentare. "Denn das malt meine Kindheit wie ein Loch der Schande - und das war sie überhaupt nicht", sagt Mayr. Die heutige Redakteurin der ZEIT stammt aus dem Ruhrgebiet und wuchs mit Hartz IV auf.
Anna Mayr ist als Kind sogenannter Langzeitarbeitsloser aufgewachsen. Der Vater eigentlich Tischler, die Mutter Punk und Studentin, bis sie schwanger wurde. Als Anna Mayr als Jugendliche das erste Mal ihr eigenes Geld verdienen will, darf das die 100 Euro im Monat nicht überschreiten - jeder Cent mehr wäre mit dem Hartz IV Satz verrechnet worden. Später bekommt Anna Mayr ein Stipendium, studiert und ist heute, mit 26 Jahren, Redakteurin bei einer großen deutschen Wochenzeitung. In "Die Elenden" geht es nicht nur um ihre eigene Erfahrung, sondern auch um die Frage, ob unsere Arbeitswelt überhaupt ohne Arbeitslosigkeit gedacht werden kann.
"Es ist ein sehr naheliegendes Thema, unsere Arbeitswelt über Arbeitslosigkeit zu erklären. Und das haben auch viele Theoretiker schon getan, nur es hat nie jemand auf Arbeitslosigkeit fokussiert. Ich glaube, wenn man es von oben betrachtet, wird vieles leichter zu verstehen, unsere Vorurteile und wie unsere Gesellschaft aufgebaut ist."
Der französische Schriftsteller Victor Hugo schrieb Mitte des 19. Jahrhunderts mit "Les Misérables", die Elenden, einen der bekanntesten Sozialromane. Er zeigt die Lage der Verarmten unter dem Eindruck der beginnenden Industrialisierung. Den gleichen Titel trägt nun Anna Mayrs Buch. Wieso dieses Wort "Elend"? "Da steckt Unschuld drin, und da steckt auch das Verelenden drin, und das allein gelassen sein", sagt Mayr.
Allein das Wort "arbeitslos", so Mayr, definiere Menschen allein durch das, was sie nicht haben und schließe sie damit davon aus, sich selbst als sinnvoll anzusehen. Dabei haben auch Arbeitslose ihre Funktion in der Gesellschaft. Ihre These: Armut ist politisch gewollt. "Wir grenzen uns von den Arbeitslosen ab, und dafür brauchen wir sie. Und damit wir uns von ihnen abgrenzen können, brauchen wir auch ihr Leid. Also es muss diese Leute geben, die unten sind, die nicht arbeiten, damit wir uns versichern können, dass wir das richtige tun, nämlich Arbeiten. Also Nichtarbeiten muss sinnlos sein, muss schlecht sein, muss mit Scham belegt sein, damit Arbeiten das Gute ist, das Tolle, und das, was ein rechtschaffender Mensch zu tun hat."
Die Klischees, die RTL-Nachmittagssendungen, all das diene immer wieder dazu, die eigene Position als Arbeitende abzusichern, so Mayr. Auf der anderen Seite beobachtet sie, dass gleichzeitig ein gewisser "shabby chic" Armut als Lifestyle inszeniert. Bestes Beispiel: Der Schauspieler Lars Eidinger, der im Januar für ein Foto mit einer Designertasche in Alditüten Optik vor einem obdachlosen Mann posierte.
"Arbeitslosigkeit hat keine Popkultur, es gibt keine gemeinsame beschlossene Kultur, an die sich man dann halten kann und die einen beabsichtigten Stil hat. Diese Aneignung von Codes der Armut von reichen Leuten, oder auch in Berlin man muss möglichst verwahrlost aussehen, um cool zu sein. Das können die Leute schon machen, ich finde das aber natürlich anmaßend. Weil es gibt Leute, die können nur so aussehen."
Zum Januar 2021 steigt der Hartz IV Satz wieder einmal - um sieben Euro. Es verändert sich über die Jahre, was für eine Teilhabe in der Gesellschaft nötig ist. Darunter fiel bei Kindern bisher nicht der Laptop, den sie brauchen, um digital am Unterricht teilzunehmen - was das bedeutet, hat die Corona-Krise nun gezeigt. Krise, und das steckt schon in dem Ursprung des Wortes selbst, dem griechischen Krisis, bedeutet nicht nur Zuspitzung, Entscheidung, sondern auch die Chance auf einen Neuanfang.
"Armut ist politisch gewollt", sagt Anna Mayr
"Die Situation von Arbeitslosen hat sich immer in dem Moment verbessert, wo es besonders viele gab. Das hat man in den USA gesehen, das hat man aber auch in Deutschland gesehen. Bei uns wurde die Erwerbslosenfürsorge z.B. erst nach dem ersten Weltkrieg eingeführt, als es extrem viele Erwerbslose einfach gab und man mit denen umgehen musste. Deswegen gab es auch im Osten so viel Solidarität für die Arbeitslosen, die dann in Hartz IV gerutscht sind, weil im Osten deutlich mehr Menschen arbeitslos waren damals."
Im Zuge der Corona-Krise wurde etwa das Kurzarbeitergeld angehoben. Und wer jetzt arbeitslos wird, muss nicht erst in eine günstigere Wohnung umziehen, sondern bekommt die volle Miete erstattet. "Es sind schon viele Verbesserungen passiert, und ich glaube, dass Corona da ein Moment der Solidarität sein könnte, weil eben gerade auch Leute Arbeitslosigkeit kennen lernen, die sie vorher nicht kannten oder die dachten, das wäre sehr, sehr weit weg. Ich hoffe, dass diese Pandemie uns in vielen Dingen was beibringt, nämlich, dass manche eben Dinge ungerecht verteilt sind. Und dass wir das nicht vergessen, sobald wir eben keine Angst mehr vor dem Virus haben."
Wer die Situation der Arbeitslosen verbessert, verringert die Angst der Arbeitenden vor dem Abstieg. Ob das erstrebenswert ist oder nicht, hängt von der (politischen) Perspektive ab. Anna Mayr verurteilt niemanden dafür, Geld zu haben. Was sie zeigen will: Eine Gesellschaft, die sich permanent über Arbeit identifiziert, schließt konsequent aus. "Ich fänd's gut, wenn wir uns alle fragen würden, was machst du so? Ich fänd's nur besser, wenn wir dann nicht überrascht wären, wenn jemand sagt, ich mache wahnsinnig gerne Macramé, oder ich hab' n Hund, den ich sehr liebe."
"Die Elenden" ist wütend. Wütend auf das ewige Narrativ vom Sozialschmarotzer. Wütend auf linksliberales Schulterklopfen und eine Gesellschaft, die Solidarität predigt und gleichzeitig Arbeitslose verspottet. Anna Mayrs Buch ist mehr als ein Klagetext einer armen Kindheit, sie feiert sich nicht als Aufsteigerin, sondern zeigt Grenzen auf von Bildungsgutscheinen oder Debatten zum Bedingungslosen Grundeinkommen. Die feinen Unterschiede, die bestehen bleiben, ein „sich-nicht-selbstverständlich-fühlen" in der anderen Welt, den Gehaltsverhandlungen, der Etikette, dem Taxi. Anna Mayrs Blick ist so wichtig, weil er eben nicht durch die soziologische Lupe passiert, sondern durch eine tiefe Verbundenheit, einen Stolz auf die eigene Herkunft.