Frau Schouler-Ocak, warum haben Sie für die Studie speziell die Lage von geflüchteten Frauen untersucht?
Wir hatten bisher kein konkretes Bild über die Gesamtsituation der geflüchteten Frauen, die bei uns in Deutschland angekommen sind. Repräsentative Studien über diese Zielgruppe gab es bisher nicht, darum wollten wir das dringend nachholen und herausfinden wie es ihnen geht, was sie auf der Flucht erlebt haben und was sie sich für die Zukunft wünschen.
Auch Frauen fliehen aus den bekannten Gründen, zum Beispiel vor Krieg, Terror, Nahrungsmangel und Obdachlosigkeit. Es gibt aber auch frauenspezifische Fluchtursachen, die meistens mit sexualisierter Gewalt zusammenhängen. Viele haben zum Beispiel Angst vor Ehrenmorden oder Beschneidungen.
Sie spielen auf jeden Fall mit hinein. Aber auch die traumatischen Erlebnisse, die sie auf der Flucht erlebt haben, führen oft zu Folgestörungen. Afrikanische Frauen mussten die Wüste durchqueren, andere haben im Mittelmeer Menschen ertrinken oder auf der Balkanroute erfrieren sehen.
Nicht jeder, der traumatisierende Erlebnisse durchleben musste, leidet automatisch an einer Trauma-Folgestörung. Wir gehen davon aus, dass trotzdem etwa 40 Prozent betroffen sind. Die Zahlen für Depression sind deutlich höher. Dann sollte man schnellstmöglich eine Behandlung beginnen, damit gegengesteuert werden kann und die Störung nicht chronisch wird. Auch Selbstheilungsprozesse müssen in Gang gesetzt werden.
Wenn die Menschen bei der Ankunft soziale Unterstützung und Wertschätzung erfahren, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie eine Störung entwickeln, viel geringer. Das Gefühl von Normalität bringt den Selbstheilungsprozess schneller in Gang. Deshalb ist eine sinnstiftende Beschäftigung ganz wichtig. In unserer Studie hat etwa ein Viertel der Frauen angegeben, dass sie ohne Respekt und Wertschätzung behandelt werden. Das muss besser werden.
Frauen sollten mit ihren Kindern separat untergebracht werden, sie brauchen Privatsphäre, damit sie familiäre Strukturen aufbauen können. Viele der Befragten haben berichtet, dass sie sich wünschen, schneller aus den Einrichtungen herauszukommen. Manchmal ziehen sich die Aufenthalte dort bis zu drei Jahren hin, das kann psychische Folgestörungen auslösen, aber auch verstärken. Bei Kindern ist die Gefahr hierfür noch größer als bei Erwachsenen.
Psychische Erkrankungen bei Migranten sind ein unterschätztes Problem in unserer Gesellschaft. Sehr oft werden Fehldiagnosen gestellt oder Erkrankungen gar nicht erkannt - oder die Betroffenen wissen selbst nicht, dass sie krank sind und Unterstützung benötigen.
Migrant ist nicht gleich Migrant. Wir sprechen hier von einer sehr heterogenen Gruppe. Oft scheitert es schon an der Sprache und die ist ja das wichtigste Werkzeug der Psychiatrie. Hier liegt eines unserer Hauptprobleme: es gibt viel zu wenig qualifizierte Dolmetscher, die etwa Farsi, Arabisch oder afrikanische Sprachen beherrschen. Und wer sie bezahlen soll, ist auch immer noch nicht geklärt. Das muss endlich passieren.
Noch nicht flächendeckend. Ich finde, interkulturelle Kompetenz sollte schon in der Ausbildung eine größere Rolle spielen und an der Uni obligatorisch sein. Schließlich hat schon jetzt mehr als jeder Fünfte in Deutschland einen Migrationshintergrund. Und die Globalisierung nimmt weiter zu.
Ja, auf jeden Fall! Migrationshintergrund befähigt nicht automatisch zur interkulturellen Kompetenz. Auch Migranten müssen diese Kompetenz erwerben. Hierbei gibt es sicherlich Missverständnisse. Viele Patienten kommen mit konkreten Erwartungen in die Praxis und therapeutische Gespräche gehören nicht unbedingt dazu. Sie erwarten, dass der Arzt ihnen eine Spritze oder Medikamente verabreicht und sind enttäuscht, wenn er das dann nicht tut. „Deutsche Ärzte fragen mich, was ich habe - Türkische Ärzte sagen mir, was ich habe." Das haben die Patienten oft zu einem meiner Kollegen gesagt. In vielen Kulturen ist der Arzt noch der allwissende „Halbgott in Weiß".
Beim Thema Geflüchtete wünsche ich mir, dass sich die Gesetzgebung ändert. Ich finde das Asylbewerberleistungsgesetz problematisch. Erst nach 15 Monaten können die Geflüchteten die gleichen Leistungen wie gesetzlich Krankenversicherte in Anspruch nehmen. Vorher werden nur die Kosten für akute Beschwerden übernommen. Mit chronischen psychischen Erkrankungen werden sie allein gelassen. Es gibt Studien, die das durchgerechnet haben: Es wäre günstiger, wenn man die Geflüchteten gleich ins bestehende Gesundheitssystem eingliedern würde. Im Endeffekt ist es jetzt viel teurer: Krankheiten verschleppen sich und werden chronisch. Davon hat niemand etwas.