Lüneburger Heide, der zweite Weihnachtsfeiertag. Ich war allein, hatte auf meiner Wanderung noch keinen einzigen Menschen getroffen. Auf einem Hügel hielt ich an, lehnte mich auf meinen Wanderstock und schaute in die Ferne. Da sah ich sie. Vier Wölfe, ein kleines Rudel. Sie schauten mich an. Wie Schäferhunde sahen sie aus, nur größer, das Winterfell dicht und grau. Vor lauter Überraschung ließ ich den Wanderstock fallen. Klong. Die Wölfe liefen davon. Das laute Geräusch hatte sie verscheucht. Dabei hatte ich mich gar nicht gefürchtet. Im Gegenteil: Einem Wolf zu begegnen ist für mich das pure Glück.
Seit in Niedersachsen wieder Wölfe leben, gehe ich mindestens einmal in der Woche wandern, um sie zu beobachten. Meistens bin ich allein. Zu zweit riecht man zu sehr nach Mensch. Zufällig, so wie an Weihnachten, begegne ich ihnen selten. Normalerweise breche ich früh am Morgen auf, um Pfotenabdrücke und Kot zu suchen. Habe ich eine Spur gefunden, richte ich meine Kamera ein, hocke mich zwischen die Tannen und warte. Stundenlang. Es klappt nicht immer. Wölfe sind scheu. Näher als 15 Meter bin ich bisher noch nie an einen herangekommen. Sie schauen Menschen nicht lange an, so wie im Film. Sobald man auf sich aufmerksam macht, laufen sie davon. Bevor das passiert, schieße ich schnell ein paar Fotos. An den Aufnahmen kann ich dann ablesen, wie lange sie zu sehen waren. Neun Sekunden ist der Rekord.
Wölfe sind Raubtiere. Aber der böse Wolf ist eine Märchenfigur. Ich sehe sie eher wie Löwen: kräftig und anmutig. Schon im Kindergarten habe ich Wölfe gemalt, auch wenn alle dachten, es seien Hunde. Ich habe sie um ihre Freiheit beneidet. Meine Mutter schenkte mir damals ein Wolfskuscheltier. Sie ist früh gestorben. Vielleicht ist die Faszination deshalb nie verschwunden. Den Wunsch, einen echten Wolf zu sehen, habe ich immer mit ihr verbunden. Vor sechs Jahren wurde mir dieser Wunsch zum ersten Mal erfüllt. Es war Winter, ich saß auf einer Waldkreuzung und fror. Da sah ich den Wolf über den Weg huschen. Es war nur eine Sekunde. Aber der Moment hat stundenlang in mir nachgewirkt. Ich weinte vor Glück. Ich wollte eine Nachricht in mein Handy tippen, aber meine Hände zitterten so sehr, dass es mir nicht gelang. Also blieb ich einfach sitzen. Ich hatte mir meinen Kindheitstraum erfüllt. Mit diesem Gedanken stieg ein Gefühl in mir hoch, das lange blieb: Ich war zufrieden.