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Zwischen Armut und Favelaromantik

Eine kleine Frau steht im winzigen Wohnzimmer und bügelt. Alles ist aufgeräumt, für uns nimmt sie die gewaschenen Kleider von den einzigen Stühlen. Aus dem Radio kommt portugiesische Gospelmusik. Im Raum verteilt liegen mindestens drei verschiedene Prepaidhandys mit SIM Karten von verschiedenen Anbietern. Während dem Gespräch gehen durchquert eine ganze Reihe von Familienmitgliedern das Zimmer und ich frage mich, wo die denn alle schlafen. Ein vielleicht zehn Jahre altes Mädchen zeigt stolz seine Puppen. Die kleine Frau ist besorgt. Ihre 14-jährige Enkelin ist schwanger, ausgezogen und möchte nicht zu den Vorsorgeuntersuchungen gehen. Zu der Mutter hat sie sowieso kaum Kontakt und jetzt meldet sie sich auch nicht mehr bei der Oma.

Es stinkt. Zwei riesen Hunde und eine Katze rennen auf dem Hof herum. Ich frage mich, ob das Dach den nächsten Wind übersteht. Eine Frau klagt darüber, dass der Krankentransport sie nicht immer zum Arzt fährt. Sie hat Krebs. Aber mit dem Geld gehe es doch mit der Bolsa Familia (Finanzielle Unterstützung des Staates für Arme, an verschiedene Bedingungen geknüpft) oder nicht, will die Sozialarbeiterin wissen. Nein, die bekomme sie nicht mehr. Wurde gestrichen, weil die Kinder nicht regelmäßig zur Schule gehen.

Eine Wohnung mitten in den rotbraunen Backsteinvierteln der Favela. Es gibt hier keine befahrbare Staße, aber von den oberen Häusern hat man einen spektakulären Blick über das Viertel. Sonnenauf- und Untergänge müssen hier echt toll sein. Als uns die Tür geöffnet wird bin ich baff. Wir stehen in einen super modern eingerichteten Wohnzimmer. Ein Flachbildfernseher vor einer stilvollen Sitzgruppe nimmt den größten Teil der Wand. Weiterhin ist der Essbereich und Küche. Ein Glastisch steht vor der neuen weißen Küche mit glänzendem Kühlschrank und dazu passendem Ofen. Am Tisch frühstücken vier Kinder mit einer Mutter. Es duftet nach frischen Brötchen und Kaffee. Ob wir auch frühstücken möchten, will die Mutter wissen. Ob wir nicht seine Schildkröte angucken wollen, ein Junge und ist schon los gerannt und kommt wenige Sekunden später strahlend mit einer Schildkröte zurück.

Der größte Teil der Einrichtung befindet sich auf einer Art Terasse. Rechts geht es einen Abhang herunter. Auf etwas, was eine Mischung zwischen Müllhalde und Trampelpfad ist, spielt ein Kleindkind direkt neben kaputten Flaschen. Es riecht nach Marihuana. Obwohl ich fiel gelaufen bin, nehme ich das Angebot mich zu setzten beim Anblick des Sofas lieber nicht an. Wo das die Cesta Básica (Lebensmittelgrundpaket das arme Familien in Brasilien vom Stadt einmal im Monat erhalten. Besteht aus Reis, Bohnen, Mehl, Öl und ähnlichem) ist, will eine Frau wissen. Noch nicht angekommen. Was mit den Papieren des Bruders ist, wann er vor Gericht muss, eine andere. Der Umgangston in der Familie ist rau. Beinahe jeder zweite Satz ist geschrien oder enthält eine Beleidigung.

So unterschiedlich zeichnet sich für mich das Leben, der Alltag der Menschen hier ab. Einmal in der Woche habe ich die Möglichkeit Sozialarbeiter bei ihren Hausbesuchen zu begleiten. Wir gehen dann in die Comundidade. Das Wort Favela benutzt hier niemand, viele Bewohner mögen es nicht, wenn andere so über ihr Zuhause sprechen. Bei den Bewohnern zu Hause haben wir ein offenes Ohr für die Probleme der Menschen. Egal ob aufmüpfige Kinder, Probleme mit Papierkram oder das Vorlesen der Packungsbeilage von Medikamenten, fast jeder freut sich, wenn man ihm eine Möglichkeit gibt den Alltag zu erleichtern.

Auch ich kann bei diesem Besuchen immer viel lernen und ganz neue Einblicke in die brasilianische Gesellschaft bekommen. Manchmal erdrückt mich die offensichtliche Armut fast: Ein kleine Raum mit drei Stockbetten, den bloßen Matratzen drauf und mitten drin mehrere spielende Kinder. Außer Küche und Bad gibt es sonst nichts mehr. Kleider stapeln sich in einem Koffer und auf dem Boden. Eine Frau die fragt, ob wir nicht einen Keks hätten. Sie hat nichts mehr zu Essen im Haus. Die Cesta kommt erst in der nächsten Woche. Manchmal verstehe ich die Menschen nicht. Wenn vormittags ein paar Typen an die Mauer gelehnt kiffen und nebenher noch auf ein kleines Kind aufpassen. Wenn ich höre, wie vielen Menschen die staatlich Unterstützung gestrichen wird, weil die Kinder nicht in die Schule gehen. Wenn ich den ganzen Müll sehe, der überall achtlos auf dem Boden geschmissen wird. Ganz oft bin ich beeindruckt von den Bewohnern der Comunidade vor allem von dem Frauen. Ich höre so viele schwierige Lebensgeschichten, die Frauen haben schon viel durch gemacht, oft sind sie allein gelassen mit Kindern. Es ist mir ein Rätsel, wie sie mit dem geringen Gehalt über die Runden kommen, Trotzdem arbeiten sie, halten das kleine Haus sauber und begrüßen uns mit einem Lächeln. Trotzdem kümmern sie sich auch noch um die kranken Eltern. Trotzdem machen sie aus jedem Tag das Beste und kämpfen für eine besser Zukunft für die Kinder.

Es ist schwierig für mich ein authentisches Bild von dem Armenviertel zu zeichnen und ich möchte auch ganz viel gar nicht beurteilen. Sicher ist aber das die Favelas hier in Brasilien nicht nur Gewalt, Drogen und Kriminalität sind, wie wir das in den Medien immer vermittelt bekommen. Sie sind zu allererst einmal auch ein Zuhause für unzählige Menschen. Sie sind Familie, Freundschaft, Liebe: Das Leben mit all seinen Hoch- und Tiefpunkten, mit dem all den Dramen, Tragödien und nicht zuletzt auch den Komödien des Alltags.

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