Gespräch mit dem Sozialphilosophen Martin Saar.
Blitzartig ist der Alltag wieder da: Kaum sind ein paar Lockerungen beschlossen, drängen sich die Menschen bei Sonnenschein durch Fußgängerzonen und Parks. Frühlingslaune und Shoppinglust statt Coronafrust: Es scheint, als hätten wir mit einem Mal die Angst vorm Virus verloren, oder zumindest, als hätten viele die wochenlange Enthaltsamkeit und die ewige Diskussion um Reproduktionszahlen einfach satt. Wie gefährlich ist das für unsere Gesellschaft? Darüber haben wir mit dem Sozialphilosophen Martin Saar von der Frankfurter Goethe-Universität gesprochen. Er ist der Meinung, dass es für unseren Zusammenhalt in der Krisenzeit etwas viel Entscheidenderes geben muss als die Angst vor Ansteckung.
Viele Menschen haben offensichtlich die Nase voll vom Thema Corona. Man spricht von einer „Disaster Fatigue", die sich breitmacht. Befinden wir uns an einem gefährlichen Wendepunkt für unser Zusammenleben?
Überdruss und Erschöpfung stellen sich definitiv ein, niemand war ja mental auf eine solche Zwangspause eingestellt, und sie fordert ja vielen, ob an der Krankenhaus- oder Homeschooling-Front, viel ab, von den Alleinerziehenden, den vielen Freiberuflern und Selbstständigen und ihren Zukunftssorgen ganz zu schweigen. Aber noch ist doch den meisten klar, worum es in erster Linie geht: hochgradig gefährdete Gesundheit. Und der im Vergleich zu anderen Ländern noch glimpfliche Verlauf in Deutschland macht vielleicht auch etwas nachdenklich.
Bisher hat unsere Angst dazu beigetragen, dass wir uns an die neuen gesellschaftlichen Spielregeln halten. Wie sehr hat sie uns noch im Griff?
Ganz sicher sind hier konkrete Befürchtungen oder ist eine etwas diffuse Angst im Spiel, und ohne sie würden solche doch sehr drastischen Maßnahmen kaum Akzeptanz finden. Und wer die Bilder aus Bergamo oder New York gesehen hat, dem konnte es ja auch angst und bange werden.
Aus sozialphilosophischer Sicht: Welche Rolle spielt die Furcht in einem Staat?
In normalen Zeiten gerät es oft in den Hintergrund, aber Politik und Gesellschaft lassen viel Platz und viele Funktionen für positive, aber auch für negative Gefühle wie Angst oder Furcht, und die Gesellschaftsordnung nutzt und „bewirtschaftet" sie auch. Ob es die Furcht vor Strafe oder vor sozialer Missachtung ist, die Angst, nicht dazuzugehören oder abgehängt zu werden, all dies sind starke motivationale Faktoren. Thomas Hobbes hat die gesamte Idee des Staates aus der Furcht vor Unsicherheit begründet; und der Staat versucht auch bis heute, viele seiner Kompetenzen damit zu begründen, dass nur er Sicherheit und damit weitgehende Angstfreiheit gewähren kann.
Wenn wir die Angst vor Corona verlieren - was passiert dann? Kann das gesellschaftliche Gleichgewicht ins Wanken geraten?
Solange eine große Mehrheit die verfolgte Linie nachvollziehen kann, solange eine breite und kontroverse öffentliche Debatte überzeugend das Ringen um gemeinwohlorientierte Lösungen abbildet, bleibt der Wille zum Mitmachen erhalten, denke ich. Problematisch wird es, wo diese Überzeugungsarbeit entweder versagt oder gar nicht mehr ernsthaft versucht wird, weil sich Partikularinteressen durchsetzen.
Es sind aber längst nicht alle überzeugt: Viele Deutsche fühlen sich von der Regierung bevormundet oder befürchten sogar einen Überwachungsstaat.
Die derzeitige Debatte um mögliche Überdehnungen des Fürsorgehandelns des Staates und um die längerfristigen Schäden, die die Einschränkung von Grundrechten für die demokratische Qualität unserer Gesellschaft anrichten könnten, halte ich für absolut berechtigt und notwendig. Gerade die inzwischen ja juristisch vielfach problematisierte pauschale Einschränkung der Versammlungsfreiheit zielt auf das Herz unserer Gesellschaftsordnung. Ebenso gültig ist aber der Verweis auf das ganz objektiv Ungewisse und Gefährliche in dieser Ausnahmesituation, die aber auch eine Ausnahme bleiben muss. Den öffentlichen Streit um die richtigen Maßnahmen kann man hier allerdings als gutes Zeichen dafür nehmen, dass eben nicht alles unbefragt „von oben" entschieden wird.
Sie würden also sagen, dass trotz aller Kritik die Kontaktbeschränkungen und Sicherheitsanordnungen noch auf einem gesellschaftlichen Konsens beruhen?
Wir haben hier ja alle keine eindeutigen Daten, aber noch scheinen mir Umfragen und die allgemeine Atmosphäre nahezulegen, dass die Mehrheit der Bevölkerung von der Notwendigkeit auch drastischer Maßnahmen überzeugt ist. Und noch einmal: Niemand, keine abweichende Meinung, wird hier abgedrängt oder missachtet, und selbst die medizinischen Experten gestehen ihre Unsicherheiten ein.
Dennoch: Dass uns die Regierung ein so großes Gehorsam abverlangt, ist für uns ja eine ganz neue Situation. Welches Gefahrenpotenzial steckt da drin?
Nun ja, Steuern gezahlt und uns an alle Details der Straßenverkehrsordnung gehalten haben wir uns bisher auch nicht nur aus ganz freien Stücken. Aber solche drastischen Einschnitte in die alltägliche Lebensführung sind sicherlich neu und ungewohnt und dürfen auch kein Dauerzustand sein. Denn auch politische Partizipation in Präsenzform und das Äußern von öffentlicher Kritik etwa auf Demonstrationen, sogar öffentlicher Ungehorsam, gehören zu unserem Staats- und Bürgerschaftsverständnis. Wer dies, begründet mit Sicherheitsbedenken, einfach wegschneidet, schadet dem Gesamtgefüge.
Wo würde eine Dauerkrise hinführen? Zu einer Revolution, oder ist sogar ein Krieg zu befürchten?
Für solche Szenarien sehe ich keinen Anhaltspunkt und hoffe auch, dass weiterhin geschlossene Fußballstadien dafür keinen Anlass bieten ... Aber im Ernst gesagt: Wie immer trifft es die Menschen unterschiedlich, auch die Pandemiegefahr trifft oder macht nicht alle gleich, im Gegenteil. Und ganz schutzlos trifft sie wohl derzeit genau die, die am ohnmächtigsten sind, ob in den Auffanglagern an den Außengrenzen oder ohne festen Wohnsitz auf den Straßen.
Die Einschränkungen sind ein Einschnitt in unsere persönliche Freiheit. Was kann jeder einzelne tun, um sich von diesem Gefühl der Fremdbestimmtheit ein Stück weit zu befreien?
Ja, so fühlt man sich derzeit. Man könnte sich politisch oder publizistisch einbringen, mit den Experten streiten, seine Abgeordneten zu mehr Kommunikation auffordern. Aber vielleicht genügt es ja auch schon, auf der ganz lokalen Ebene oder in der Nachbarschaft zu schauen, für wen die Einschränkungen denn wirklich ganz bedrohlich und schwer auszuhalten sind, von den Schulkindern bis zu den Ladenbesitzern. Wer hier helfend tätig wird, hat vielleicht keinen Grund mehr, sich ganz zur Untätigkeit verurteilt zu fühlen.
Was muss passieren, damit eine demokratische Gesellschaft in einer solchen Zeit nicht auseinanderbricht?
Die Gefährdung für unsere sehr stark auf individuellen Freiheiten und Freizügigkeiten beruhende Gesellschaftsordnung ist real, sie lässt sich bisher aber immer wieder auffangen, wenn der Streit und die Kritik einen klaren Ort bekommen. Unsere politische Lebensform lebt vom Konflikt und dem Bestreiten der angeblichen Alternativlosigkeit. Hier sind auch die Parteien und die Amtsträger gefragt, und man kann derzeit schon ganz gut sehen, wer sich hier wie positioniert, wer die Autorität der Wissenschaft achtet (ohne unkritisch zu sein) und wer nicht, wer sich auf Kosten der Verantwortungsträger profilieren möchte, wer die Ängste schürt und vieles mehr. Die Demokratie als eine fragile, aber äußerst streitbare und kontroversenfreudige Lebens- und Institutionenform kann solche Divergenzen aushalten, ohne handlungsunfähig zu werden, und sie kann es, wenn es gut geht, verhindern, dass die Angst direkt das Handeln diktiert.
Bringt uns die Corona- krise eigentlich auch etwas Gutes?
Vielleicht werden ja tatsächlich die Risse, Ungleichheiten und Defizite in dieser Krisenzeit deutlicher sichtbar, die auch vorher schon in unserer Gesellschaft bestanden. Vielleicht entstehen ja hier neue Energien und Solidaritäten, die sogar über die unmittelbare Situation hinaus etwas verändern können. Die bisher zumindest symbolische, nun ja sogar finanzielle Unterstützung für die systemrelevanten und ja leider oft genug unterbezahlten Personen in der Pflege, in der Logistik, könnte hier ein Anfang des Umdenkens sein. Es ist sicher zu hoch gegriffen, hier von einem „neuen Gesellschaftsvertrag" zu sprechen, der aus der Angst hervorgegangen ist. Aber die Angst und die Sorge haben vielleicht gezeigt, wie und vor allem wo unsere Gesellschaft verwundbar und verletzlich ist.