Marina Abramovic hält sich nicht mit Oberflächlichem auf. Sie geht in die Tiefe. Sie liebt es, die Grenzen des Möglichen auszuloten. Sich auszutesten, das Leben, den eigenen Geist und den Körper, ihre Stärken, ihre Schwächen. Sie liefert sich aus, gibt sich preis, fordert sich und ihr Publikum heraus. Das ist manchmal verstörend, oft spirituell, mal esoterisch und manchmal nah am Kitsch.
Frankfurt - Jetzt hat die Performancekünstlerin den Frankfurtern eine neue grenzüberschreitende Erfahrung geschenkt - zumindest war das ihr Anliegen. „Die Abramovic-Methode für Musik" in der Alten Oper soll die Teilnehmer dazu befähigen, Musik - vor allem klassische - „anders zu hören". Ihre „Methode" ist eine Zusammenstellung von Erfahrungen, die sie seit den 1970er Jahren überall auf der Welt gesammelt hat.
Es geht dabei um Konzentration, um Meditation, um Kontemplation. „Um wirklich Musik zu hören, muss man mit allen seinen Sinnen dabei sein", wird die Künstlerin im Begleitheft der Alten Oper zitiert. Und weil die Menschen zwischen Berufsverkehr, Familienleben, Überstunden und Rockkonzerten diese Ruhe eben nicht finden, will Abramovic sie ihnen in Workshops beibringen. Das Gelernte sollte dann bei einem fünfstündigen Konzert am Sonntag angewendet werden - und eine völlig neue Hörerfahrung ermöglichen. Ein absolut reines Hören. Soweit die Theorie.
In der Praxis drängen sich unter der Woche pro Workshop rund 400 Besucher durch die Eingangstür der Alten Oper: Die Karten für die „Abramovic-Methode" waren schnell ausverkauft, die Warteliste ist lang. Die Glücklichen, die nun in der Schlange stehen, müssen sich erst mal gedulden. Am Einlass, an der Garderobe, an den Toiletten. Vielleicht gehört das schon zur Übung: in dieser Abfertigung mit hunderten Menschen nicht die Nerven zu verlieren. Denn: Zeit ist jetzt ohnehin nur noch ein individuelles Empfinden. Handys und Armbanduhren müssen mit den Jacken abgegeben werden. Am Aufgang zu Abramovics Reich steht eine schwarzgekleidete Vermittlerin, „Facilitator" genannt: „Ab hier dürfen Sie schweigen", sagt sie. Es klingt wie eine Drohung.
In die Welt der Marina Abramovic darf nur eintreten, wer die Außenwelt abstreift und zur inneren Einkehr bereit ist. Heißt in diesem Fall: sich unter Anleitung einiger Facilitators den Stress aus dem Gesicht zu kneten und mit fuchtelnden Armen den Alltagsballast abzuwerfen. Einige wenige schielen verschämt zum Nachbarn. Die meisten lassen die Übungen über sich ergehen - schließlich werden sie in den kommenden Stunden Teil der Kunstgeschichte.
Die 1946 in Belgrad geborene Künstlerin ist mit ihren spektakulären Performances berühmt geworden: In den 70ern fuhr die Serbin mit ihrem Partner, dem Künstler Ulay, in einem Kastenwagen durch Europa, die Beziehung endete Jahre später, 1988, in einem spektakulär inszenierten Marsch auf der Chinesischen Mauer („The Great Walk"), bei der sich beide nach 2 500 Kilometern trafen und für immer voneinander verabschiedeten. Ein Wiedersehen gab es dann aber doch: bei der Performance „The Artist Is Present" 2010 im Museum of Modern Art in New York. Dort saß die Künstlerin drei Monate täglich stundenlang regungslos da und schaute ihrem Gegenüber, Besuchern der Ausstellung, ununterbrochen in die Augen - über 700 Stunden lang. Auch Ulay setzte sich ihr gegenüber, es flossen Tränen, ein ergreifender Moment. Die Performance „The Artist Is Present" ist heute legendär.
Nach dem Prinzip der absoluten Anwesenheit und der „bedingungslosen Liebe", wie die Künstlerin es nennt, funktioniert auch ihre „Methode", die sie seit Jahren lehrt und durch ihre geschulten Facilitators an die Besucher ihrer Performances und Workshops weitergibt.
Mit einer Art Initiationsritus beginnt in Frankfurt der Trip in das Reich der Zeitlosigkeit. Ein Kopfhörer schützt vor Außengeräuschen und soll für totale Stille sorgen. So steht man da auf der Schwelle zum Großen Saal. Ein lächelnder Facilitator nimmt einen an die Hand und führt - in Zeitlupe - durch den Raum, durch eine fremde, skurrile Welt: Die selben Menschen, die eben noch vorm Eingang standen, zählen jetzt in stoischer Ruhe Reiskörner, liegen auf Pritschen, bewegen sich in Slowmotion, jeden Schritt bewusst ausführend. Oder, noch absurder: starren auf monochrome Farbflächen, stehen mit geschlossenen Augen auf Podesten oder sitzen einander gegenüber und schauen sich, wie in der Abramovic-Performance, minutenlang in die Augen.
Es könnte das Setting eines utopischen Films sein, in dem die Menschheit zu einer besseren oder zumindest einer anderen erzogen wird. Eine Gemeinschaft voller in sich selbst versunkener Individuen, die Dinge tun, die weder Sinn zu ergeben noch ein Ziel zu haben scheinen.
Aber was hat das mit einem „anderen Hören" von Musik zu tun? Was Abramovic durch ihre Facilitators beibringen lässt, ist erst einmal eine Art Best-of von Konzentrations-, Entspannungs- und Achtsamkeitstechniken. Darin zumindest zeigt die „Methode" Wirkung: Das Gefühl für Zeit verschwindet, und auf einmal ist da Platz zum Nachdenken. Etwa darüber, welchen Sinn es eigentlich macht, sich mit einer Augenbinde, taub und blind, fortzubewegen -- und in welche Richtung. Es folgt die Erkenntnis - ganz im Sinne der Meisterin: Ein Ziel, ein Ankommen ist ohnehin nicht wichtig, weil es kein Ankommen gibt. Man ist schon da.
„Sie sind jetzt mit dem Wissen und der Erfahrung ausgestattet, um sie in diesem Konzert anzuwenden", sagt die Künstlerin am Sonntagnachmittag in einem Video, das im Foyer zu sehen ist. „Ziel ist es, präsent zu sein, mit dem Geist im Hier und Jetzt." Im Gedränge geht das Video unter. Es sind 2 000 Menschen in die Alte Oper geströmt, viele fläzen sich auf Sitzkissen um die Bühne herum, die lediglich aus einem kleinen rechteckigen Podest und einem Konzertflügel besteht. Dann erscheint sie endlich.
Schwarz gekleidet, ernst, mit würdevoller Langsamkeit betritt Marina Abramovic die Bühne. Einige Gäste stehen voller Ehrerbietung auf. „Die letzten vier Tage waren eine sehr besondere Reise", sagt die Künstlerin mit ruhiger Stimme, „ein einzigartiges Abenteuer." Dann wird kollektiv geatmet. „Breathe in, breathe out", leitet Abramovic durchs Mikrofon an. Bei der nächsten Übung stoßen die Zuhörer zwei Minuten lang Töne wie „Uuuuh", „Ooooh", „Aaah" aus - eine enorme Schwingung erfüllt den Raum. Mit dieser Übung sollen nach der Phase der Stille wieder Töne in den Körper zurückkehren, erklärt die 72-Jährige. Ein wenig erinnert es an eine Show eines Motivationscoaches, bei der sich das Publikum bereitwillig zum Affen macht.
Das Konzert beginnt: Im Schlepptau eines Facilitators, der im Weg sitzende Zuhörer demonstrativ sanft berührt, schreitet Violinistin Carolin Widmann auf die Bühne. Das Publikum weiß nicht, was sie spielen wird, das ist Teil des Konzepts. Es soll sich unvoreingenommen auf die Musik einlassen. Das Licht wird gedimmt, Widmann wirft feine Aphorismen in den Saal, die zu einer Melodie werden: erst träumerisch, dann euphorisch, dann melancholisch und dramatisch klingt das.
Was das Musikalische angeht: Da serviert Abramovic ihren Schülern ein wahres Festessen. Der gefeierte türkische Pianist Fazil Say tritt auf, das junge Aris Quartett, Flöten-, Orgel-, Sitar-, Pipa-, Violoncello-, Klarinetten-, Duduk-, Akkordeonspieler und -spielerinnen von internationalem Renommee performen inmitten des Publikums. Ein Solo folgt dem anderen. Facilitators führen Zuhörer und Musiker in okkultem Zeitlupengang umher. Das ist an diesem Sonntag aber auch alles an Anleitung. „Anders hören" - das müssen die Zuhörerinnen und Zuhörer jetzt allein.
Problematisch ist: Das In-sich-Gehen ist angesichts des ständigen Geraschels und Gewusels der umherschlurfenden Besucher gar nicht so einfach. Ziemlich sicher liegt die Konzentrationsschwäche auch an den pausenlosen fünf Stunden, die selbst geübten Konzertgängern zu schaffen machen. Aber genau deshalb sind sie schließlich hier: um an Grenzen zu gehen. Vielleicht wäre ein etwas intimeres Setting dennoch gar nicht so schlecht gewesen.
Etwa die Hälfte der Zuhörer schafft es bis zum Ende. Ein wenig Erleichterung ist bei dem frenetischen Applaus für Musiker, Facilitators und die Künstlerin wohl dabei. Abramovic begnügt sich mit Luftküssen und kurzem Dank an Stephan Pauly, den Intendanten der Alten Oper. Dann verschwindet sie schnell hinter der Bühne. Irgendwann ist es dann auch mal gut mit der ganzen Anwesenheit.