Lisa Berins

Frankfurt und Offenbach

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Review

documenta 14 - Revolte ohne Aufschrei

Es geht um nichts Geringeres als um eine neue Weltordnung: Die Kuratoren um Leiter Adam Szymczyk haben sich Großes vorgenommen und scheitern im Kleinen. Morgen beginnt die documenta 14 in Kassel. Ein Vorab-Rundgang. 


Mindestens zehn Zentimeter hohe Absätze, Hotpants, blondierte Haare. Die osteuropäisch aussehende Frau winkt Autofahrern zu: Langsamer fahren, ins Geschäft kommen – ohne Erfolg. Nur etwa zehn Meter entfernt steht eins der ökobraunen documenta-Schilder, die auf eine Location hinweisen. Hinter einem Holzlattenzaun, direkt am Straßenstrich in der Kasseler Nordstadt, liegt die alte, leer stehende Tofufabrik, die zu einem Club umgebaut werden soll. Zur documenta ist in den gekachelten Räumen die bedrückende Videoinstallation „Commensal“ von Véréna Paravel und Lucien Castaing-Taylor zu sehen, in der es um die Geschichte eines Mörders und Kannibalen geht.


Zur 14. Ausgabe der weltweit bedeutenden Schau für zeitgenössische Kunst hat ihr künstlerischer Leiter Adam Szymczyk die Kunst auch in der Kasseler Nordstadt verstreut, einem Multikulti-Stadtteil, der einen eher zweifelhaften Ruf besitzt. Nicht weit von der Tofufabrik entfernt befindet sich die Hauptpost, ein brutalistisches Gebäude aus den 70ern, in dem Briefe sortiert wurden und das jetzt ebenfalls Kunstort ist. Von dort ist es nur ein Katzensprung zum Internetcafé an der Holländischen Straße, in dem im Jahr 2006 der Türke Halit Yozgat mit zwei Kopfschüssen ermordet wurde. Er war das neunte Opfer der rechtsextremen Terrorgruppe NSU.


Die Gesellschaft der Freund_innen von Halit haben im hinteren Teil der Hauptpost einen ganzen Ausstellungswinkel eingenommen: Zu sehen ist unter anderem eine computeranimierte Rekonstruktion des Mordes – sekundengenau werden verschiedene Szenarien durchgespielt. Die Arbeit ist eine symptomatische für Szymczyks documenta: Es ist ein politisches Panorama, das die Kuratoren ausbreiten. Gezeigt wird eine dokumentarische, teils investigative Kunst, die manchen Besucher verwirrt. Ist das noch Kunst, oder ist es Politik? Geht es um Ästhetik oder um Ideologie? Eigentlich ist es ganz einfach: Es geht um alles.


Kurz vor der Eröffnung der documenta für Presse und Fachbesucher hatte Kurator Adam Szymczyk Zigarette rauchend am Türrahmen eines Hintereingangs im Stadtpalais gelehnt. Leise hat er mit seinen Teamkollegen gesprochen, die Augen dabei nur widerwillig vom Boden gehoben. Verhuscht wirkte der Leiter, nervös vielleicht. Dann wurde die Ausstellung mit großen Worten eröffnet. Nichts Geringeres als einen Anstoß zum Umsturz der hegemonialen, patriarchalen Weltordnung hat sich die documenta auf die Fahnen geschrieben. Die Vorherrschaft des weißen Mannes, der normative Blick auf die Geschlechter, Rassismus, der neoliberale Kapitalismus – die geltenden Regeln der Gesellschaft müssten entlernt werden, formuliert Szymczyk und fordert: „Wir müssen wieder politische Subjekte werden und Verantwortung übernehmen!“


Das hört sich nach Kunst-Revolte an, nach Wut und Wucht. Leider ist die bei den meisten Exponaten nicht zu spüren: Im Fridericianum, dem Hauptausstellungsort der documenta, erwartet den Besucher nichts Verstörendes, kein Aufschrei, sondern konzentrierte, leise vorgetragene Kunst. Auf drei Etagen wird ein Teil der Sammlung des Athener Nationalen Museum für Zeitgenössische Kunst (EMST) gezeigt; Arbeiten aus den 60er Jahren bis heute sind darunter, viele griechische Künstler und einige internationale. Gleich in einem der ersten Räume ist ein Werk des aus Griechenland stammenden Janis Kounellis zu sehen: eine auf einer Kante balancierende Stahlplatte inmitten eines Kreises von Kohlesäcken („Ohne Titel“, 1993).


Kounellis, der im Februar dieses Jahres gestorben ist, gehörte zu den Vertretern der „Arte Povera“, einer Strömung der 60er Jahre, in der mit „armem“, banalem Material wie Erde, Stahl, Filz, Holz gearbeitet wurde. Was die Kuratoren aus der EMST-Sammlung zusammengetragen haben, könnte ein „Arte-Povera“-Revival sein: Ärmlich wirkende Baumwoll-Segel sind durch den Raum gespannt, hölzerne Baureste und Fliesen zu Plastiken, gebrauchte Kleidung oder altes Fabrikinventar zu Installationen verarbeitet. In der krisengeschütteten Jetzt-Zeit und in diesem bedeutungsschwangeren Setting ist es jedenfalls unmöglich, keine Weltkritik herauszulesen. Selbst die kompostierbare Biomülltüte, die der Besucher bei Abgabe des Rucksacks an der Garderobe bekommt, wirkt wie eine Aussage.


Zu Szymczyks Konzept gehörte es, dass die documenta dieses Jahr erstmals in Griechenland eröffnet wurde. Das Land steht exemplarisch für ein verpfuschtes Europa, für Finanzdesaster, Gesellschafts- und Flüchtlingskrise. Um diese Themen drehen sich auch einige der wenigen ikonischen Werke der Schau. In der documenta-Halle lässt Guillermo Galindo Wrackteile von Flüchtlingsbooten von der Decke hängen, die an der griechischen Küste angeschwemmt worden sind. Er hat sie zu Instrumenten umgebaut. Vor der Halle hat der kurdisch-irakische Polit-Künstlers Hiwa K die Installation „When We Were Exhaling Images“ aufgebaut: Zwanzig gelbe Wasserrohre sind aufeinandergestapelt und erinnern eher an eine Baustelle als an eine Kunstinstallation.


Die Rohre, die Flüchtlingen auf ihrer gefährlichen Reise als Versteck dienen, sind in Kassel von einer Gruppe Studenten eingerichtet worden. „Man könnte darin wohnen, kein Problem“, findet Hiwa K. Es gebe schließlich ein Badezimmer und sogar eine Bar in den Rohren. Das Werk ist eins der wenigen auf der documenta, die das Leid der Welt mit Augenzwinkern betrachten – ansonsten kommt diese Kunstschau sehr ernst daher. In der „Neuen neuen Galerie“, wie der Ausstellungsort Hauptpost in Kassels Nordstadt heißt, bahnt sich Ärger an. Die nigerianische Künstlerin Otobong Nkanga ist aufgebracht: Sie steht vor ihrem Werk „Carved to Flow“ (2017) und deutet auf die leere Stelle an der Wand, an der ein Infotext hängen sollte.


Vielleicht hat das documenta-Team die Beschriftung im Aufbaustress vergessen – bei dieser riesigen Schau läuft noch nicht alles glatt. Vor einem Garagentor der Hauptpost sind schwarze Seifen zu Brunnen aufgestapelt. Die Stücke bestehen aus Ölen aus dem Mittelmeerraum, Lauge und Kohle. Sie wurden in Griechenland in Handarbeit produziert. Es gehe ihr um den Herstellungsprozess, sagt Otobong Nkanga, um den Aufbau von Produktionsstrukturen in einer Zeit ökonomischer Krisen. In der Seife verbänden sich Öle als Symbol für Nährstoffe und Kohle als Zeichen für die Abwesenheit von Sauerstoff, erklärt sie weiter. Besucher können die schwarzen Seifen für zwanzig Euro pro Stück kaufen – und damit einen Teil der sozialen Plastik mit nach Hause nehmen.


Was nimmt man sonst noch mit von der documenta 14? Ganz sicher die Erinnerung an Marta Minujíns „Parthenon der Bücher“, der zugleich monumental und leichtfüßig wirkt. Sicher auch die Erkenntnis, dass Kunst die Welt größer macht. Aber auch einige Fragen. Zum Beispiel, wie schwer weltliche Probleme wiegen müssen, um Kunst zu werden, welche Lobby sie haben müssen. Und warum die Frau in Hotpants vor der Tofufabrik keine hat.