Am 4. August explodierten am Hafen der libanesischen Hauptstadt Beirut Dutzende Tonnen Ammoniumnitrat. Rund 180 Menschen starben an den Folgen der Detonationen, Tausende wurden verletzt. Die Katastrophe traf das Land hart, war es doch vorher schon von einer schweren Wirtschafts- und Finanzkrise betroffen. 250 Millionen Euro Nothilfe sicherte das Ausland dem Libanon zu. In dieser Woche ist der französische Präsident Emmanuel Macron erneut in Beirut, um die Bedingungen weiterer Hilfen zu verdeutlichen: Übergangsregierung, Neuwahlen, Maßnahmen gegen die Korruption. Ginan Osman studiert in Beirut, zu der Zeit der Explosion war sie in Deutschland. Zwei Tage nach der Explosion startete sie einen Spendenaufruf.
ZEIT ONLINE: Frau Osman, seit drei Wochen sind Sie wieder in . Was sehen Sie, wenn Sie vor die Tür gehen?
Ginan Osman: Ich begegne immer noch vielen Menschen mit verbundenen Armen, Beinen und Köpfen. Wenn ich durch die Straßen laufe, sehe ich sehr viel Glas und Betonbrocken auf dem Boden verstreut. Besonders der östliche Teil von Beirut wurde zerstört, da sind ganze Wohnungen und Gebäude ohne Fenster und Türen oder komplett vernichtet. Seit drei Wochen sehe ich dort einen Mann jeden Tag vor seinem kaputten Haus sitzen.
ZEIT ONLINE:Wie hat die libanesische Führung auf die Katastrophe reagiert?
Osman: Es gab nach der Explosion keine Hilfspakete, keine Unterstützung, keine Soforthilfe von der Regierung. Es ist wichtig, an dieser Stelle zu erwähnen: Die Regierung wusste von den rund 2.700 Tonnen Ammoniumnitrat, die jahrelang ungesichert am Hafen gelagert worden waren. Und vor allem wusste sie um das Risiko, das davon ausging. Doch obwohl klar ist, dass die Regierung und die politische Elite in diesem korrupten Staat die Schuld dafür tragen, hat keiner der Verantwortlichen Empathie mit den Opfern geäußert.
ZEIT ONLINE: Am 10. August trat die gesamte Regierung mit ihrem Ministerpräsidenten Hassan Diab zurück. War das nicht ein Anfang?
Osman: Ja, es gab einen Regierungsrücktritt, aber keiner der wirklich wichtigen politischen Akteure ist zurückgetreten. Stattdessen hat die politische Elite etwa gesagt, dass die Krise eine Chance für das Land sein könnte. Daran sieht man, wie weit die Lebensrealitäten zwischen der Elite und den Menschen auseinanderliegen. Alle Leute, die ich kenne, versuchen, aus dem Land zu kommen.
ZEIT ONLINE: Die Bevölkerung beschuldigt die Regierung schon lange der Misswirtschaft und Korruption. Seit vergangenem Oktober demonstrieren immer wieder Hunderttausende Libanesen für einen radikalen Wandel des politischen und wirtschaftlichen Systems. Auch nach der Explosion gingen viele auf die Straße. Was treibt die Menschen an?
Osman: Es herrscht eine große Wut und die ist verständlich. Wenn man als Bürger und Bürgerin sieht, wie die eigene Regierung hochexplosives Material in der Stadt lagern lässt und das Risiko nicht ernst nimmt, bleibt einem nur die Wut. Dieses Verhalten spiegelt den Menschen ja auch, dass ihr Leben offenbar nichts wert ist. Mehr als 300.000 Menschen haben durch die Explosion ihr Zuhause verloren, aber es gab keine Hilfe durch den Staat. Und das, obwohl der ohnehin schon vor dem Kollaps steht, durch die schwere Wirtschafts-, Finanz- und Bankenkrise, die wir schon seit Monaten haben und die sich mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie noch verschärft hat. Viele Restaurants, Bars und Cafés mussten schließen, Zehntausende Menschen haben schon vor der Explosion ihre Jobs verloren, die Armutsrate ist auf 60 Prozent gestiegen. Die Lage wird mit jedem Tag schlimmer.