Es beginnt mit Zetteln. Was der Wahl-O-Mat, die interaktive Entscheidungshilfe für den Urnengang, werden soll, ist an diesem Sonnabendnachmittag noch eine Notizsammlung: analog und bunt. Dicht an dicht hängen die orangen, roten und weißen Zettel nebeneinander auf einer blauen Pinnwand. Darauf zu lesen: die kontroversen Themen, die für die Bürgerschaftswahl im Mai entscheidend sind.
Jedenfalls sehen das die jungen Erwachsenen so, die sie notiert haben. Diese Bremerinnen und Bremer zwischen 16 und 25 Jahren, sie sind die Wahl-O-Mat-Redaktion. Denn das Online-Tool der Bundeszentrale für politische Bildung, mit dem sich die Bürger vor Bundes- oder Landtagswahl seit 2002 ein Bild davon machen können, welche Partei am besten zu ihnen passen könnte, wird keinesfalls von Informatikern mit den entsprechenden Thesen bestückt. Was in den Wahl-O-Mat kommt, entscheidet für jede anstehende Wahl eine Jugendredaktion.
Diese 17 Parteien sind zur Bürgerschaftswahl zugelassenDrei Monate vor der Wahl: Ende Februar trifft sich die Redaktion zum ersten Mal im Büro der Landeszentrale für politische Bildung in Bremen. Die Jugendlichen sollen hier ein ganzes Wochenende zusammen mit Experten der Bundeszentrale und der Bremer Landeszentrale für politische Bildung sowie Lehrern, Journalisten und Wissenschaftlern aus der Region diskutieren. Das Prinzip dahinter, erklären Martin Hetterich und Pamela Brandt von der Bundeszentrale, ist bei jeder Landtagswahl gleich: Das Online-Tool sollen junge Menschen für junge Menschen entwickeln.
Pamela Brandt diskutiert eine These mit den Jugendlichen.
„Die Redaktion soll nicht repräsentativ sein, sondern unterschiedliche Erfahrungshorizonte mitbringen", sagt Hetterich. Deswegen besteht auch die diesjährige Redaktion aus Schülern, Studenten, Auszubildenden und Bundesfreiwilligen aus Bremen und Bremerhaven. „Junge Menschen haben einen unverbrauchten und einfachen Blick auf die Politik", sagt Hetterich. Zwischen 80 und 100 Thesen sollen am Ende des Wochenendes formuliert sein. Die werden dann an die Parteien geschickt, damit sie sich dazu positionieren können. In einem zweiten Workshop Anfang April werden dann die finalen 38 Thesen beschlossen, die in den Wahl-O-Mat kommen, der ab 24. April im Netz verfügbar ist.
Doch der Reihe nach. Denn zunächst ist Gruppenarbeit angesagt: Die Jungredakteure verteilen sich auf die fünf Themenfeldern Arbeit und Soziales, Umwelt und Infrastruktur, Familie und Bildung, Finanzen und Wirtschaft sowie Inneres und Demokratie. Dann kommen die Zettel zum Einsatz: Schwerpunkte der Parteiprogramme, Konfliktthemen - alles wird notiert. Entscheidend dafür: „Man muss die Kontroversen finden, zu denen Parteien unterschiedliche Positionen haben", erklärt Hetterich. Mehr Kita-Plätze, mehr Einsatz gegen Armut, bessere Straßen? In diesen Forderungen unterscheiden sich die Parteien kaum. „Wenn sich alle einig sind, ist es schwierig", ergänzt Brandt. Deshalb eignen sich diese Ziele nicht für den Wahl-O-Mat - schließlich sollen die Thesen dazu dienen, den Nutzern eine bessere Orientierung zwischen den Angeboten der Parteien zu bieten.
Recherchieren und SortierenDer Weg zur optimalen Orientierung ist mit viel Recherche verbunden: Die Redakteure fachsimpeln, recherchieren und prüfen Themenideen in den Parteiprogrammen, bei kritischen Fragen unterstützen die Experten sie mit Hintergrundwissen. Nachdem die einzelnen Gruppen ihre Thesen auf einer Sammlung von bunten Zetteln niedergeschrieben und am Sonnabendmittag für alle sichtbar an eine Pinnwand geheftet haben, geht es ans Aussortieren. Und das ist nicht einfach: Öffentliches Wlan, der Wolf, Abbiegeassistenten für Lkw - sind das wirklich Themen, anhand derer sich die Stimmung und in beiden Städten und die Zielsetzungen der Parteien ablesen lassen? „Wir dürfen auch Bremerhaven nicht vergessen", betont die 16-jährige Sophie Ketschau immer wieder. Denn sie findet, ihre Heimatstadt kommt in politischen Diskussionen oft zu wenig vor.
Die Qual der Wahl an der UrneDie Jugendlichen verteidigen ihre Vorschläge, stehen für bestimmte Themen, gerade in den Bereichen Bildung und Soziales, ein. Doch das Plenum entscheidet: Ist die Mehrheit gegen eine These, wird sie von der Wand genommen. Dass bestimmte Themen dabei komplett aus dem Thesenkatalog verschwinden, kann schnell passieren: „Es gibt keine Quote pro Thema", sagt Hetterich. Die fünf Themenkomplexe seien im Endergebnis ohnehin nicht mehr erkennbar.
Aussagen dürfen nicht suggestiv seinGegen Abend hat sich die Notizensammlung gelichtet. Allerdings gilt es nun, die einzelnen Thesen genau zu formulieren. „Es ist ein bisschen wie ein germanistisches Seminar", sagt Brandt. Denn die Aussagen dürfen nicht suggestiv sein und die Nutzer zu einer bestimmten Antwort lenken. Auch Begriffe, die von Parteien eindeutig ideologisch besetzt sind, sind tabu. „Das Ziel ist, dass die Nutzer den Wahl-O-Mat nicht mit einem Parteiprogramm verwechseln", sagt Hetterich.
Mit 79 Thesen schließen die Teilnehmer am Sonntag das Wochenende ab. Der Weg dahin: kein einfacher. Aber gefallen hat es ihnen trotzdem: „Ich konnte viel mitreden, die Diskussionen waren extrem spannend", sagt Ketschau. Auch Tergite Zeqiri, die nach der Schule Politik studieren will, ist zufrieden mit dem Wochenende: „Ich habe viel über die Parteien erfahren." Was die sich zu den einzelnen Thesen positioniert haben, erfahren sie und die Nutzer aber erst im April.
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