Immer mehr minderjährige Flüchtlinge, die ihre Eltern in Afrika oder Afghanistan zurücklassen mussten, drängen nach Deutschland. Sie stranden in Grenzstädten, die mit ihnen völlig überfordert sind - und sind damit noch nicht am Ende ihrer Irrfahrt.
Das Kinn von Bamba Amara* liegt fast auf der Brust, so tief hält er den Kopf gesenkt. Er hockt auf dem Bett des Zehn-Quadratmeter-Zimmers, in dem sonst Touristen schlafen. Seit zwei Wochen ist das sein Zuhause.
Wenn Bamba von den vergangenen zwei Jahren erzählt, schaut er nie hoch, murmelt auf Französisch in sich hinein. Der Junge mit der dunklen Haut und den schwarzen Kräuselhaaren ist 16. Mit 14 floh er von der Elfenbeinküste nach Mali, nach Niger, bettelte in Algerien um Essen, schaffte es nach Marokko und Spanien. So jedenfalls erzählt er seine Geschichte jetzt, da er in diesem Hotelzimmer in Aachen sitzt. Hier möchte er nicht mehr weg, sagt er. Seit er das Land verließ, dessen Bürgerkrieg ihm seine Eltern nahm, wollte er nach Deutschland.
Junge Flüchtlinge im Hotel geparkt
Vor zwei Wochen fischte ihn die Bundespolizei am Aachener Bahnhof aus dem Zug, weil er keinen Pass hatte und allein war. Der Junge bekam den Schlüssel für das Zimmer Nummer 45, für Bett, Schrank, Schreibtisch, Langeweile. Sie sagten ihm, er könne bald in ein Heim zu anderen Jugendlichen und zur Schule gehen. Wann? Das sagten sie ihm nicht.
Bamba hat einen Anspruch auf Heim und Schule. Wenn junge Flüchtlinge allein nach Deutschland kommen, behandelt das Gesetz sie als Waisen. Doch Aachen hat mittlerweile so viele Waisen, dass es sie in Hotels parkt, bis ein Platz am anderen Ende der Stadt frei ist.
Hinter den Villen und dem Waldgebiet, in einem Vorort von Aachen, gibt es das andere Zehn-Quadratmeter-Zimmer. Bett, Schrank, Schreibtisch - aber auf dem Tisch stapeln sich so viele Schulbücher, dass kein Platz mehr zum Arbeiten ist. In den Zimmern dort wohnen keine Touristen, sondern Jungs aus Bangladesch, Guinea, Afghanistan. Im Wohnzimmer des Hauses schnippen sie Holzchips über ein Brettspiel. Draußen steht ein Tischkicker neben den dreckigen Fußballschuhen, das Schild am Gebäude zeigt „Maria im Tann - Zentrum für Kinder-, Jugend- und Familienhilfe, Haus 1“.
Immer mehr Kinder kommen allein
Einer, der hier wohnt, ist Amadou Sangare*. Der Junge ist 17, er kommt aus Mali, er hat es schon geschafft. Wie Bamba schlug er sich allein nach Europa durch und strandete in Aachen. Vor vier Monaten holte ihn die Polizei aus dem Reisebus, das Jugendamt steckte ihn ins Hotel. Nach einem Monat war ein Platz für ihn im Jugendheim „Maria im Tann“ frei, auch zur Schule darf er gehen.
Bamba und Amadou überfordern Aachen. Sie überfordern das Jugendamt, sie überfordern das Schulamt, sie überfordern die Flüchtlingshilfe. Das Amtsdeutsch nennt Bamba und Amadou „unbegleitete minderjährige Flüchtlinge“. Ihre Eltern sind tot oder verschwunden, vielleicht haben sie ihren ältesten Jungen auch losgeschickt, damit er es besser hat, Geld verdient. Jedenfalls gibt es in Deutschland niemanden, der auf die Jugendlichen aufpassen kann, deshalb kümmert sich das Jugendamt.
Kollaps der Grenzstädte
Ob die Flüchtlinge nun aus Afrika oder Afghanistan kommen, irgendwie landen viele von ihnen in Paris. Dort steigen sie in den „Thalys“ nach Köln, fünf Mal am Tag fährt der Zug, jedes Mal hält er in Aachen. Es ist die erste deutsche Stadt hinter der Grenze, hier steigt die Bundespolizei ein. Reine Routine. Findet sie einen jungen Flüchtling, nimmt sie ihn mit und lädt ihn beim Jugendamt ab. 2011 kam eine Handvoll Jugendliche in Aachen an. In diesem Jahr waren es bisher fast 280.
Die Stadt weiß nicht mehr, wohin mit den Flüchtlingen. Erwachsene dürfen über Deutschland verteilt werden, dorthin, wo gerade Platz ist. Bei Kindern sagt das Gesetz seit 2005: Zuständig ist das Jugendamt dort, wo sie aufgegriffen werden. In der Theorie soll die Regelung den Jugendlichen ersparen, von einer Stadt in die nächste geschoben zu werden. In der Praxis führt sie zum Kollaps der Grenzstädte, während anderswo Jugendheime verwaisen. Was Politiker beschließen und was Flüchtlinge brauchen, das klafft in Deutschland weit auseinander.
Als in Aachen die Heime voll waren, brachte das Jugendamt die Kinder zur Jugendherberge. Als auch die voll war, buchte es Hotelzimmer. Dort hocken die Jungs nun, manche schon zwei Monate.
Alles braucht Zeit, wenn man kein Deutsch kann
Schlafen, fernsehen, warten auf den Platz im Heim. Mehr kann Bamba nicht tun. Er hat sich ein Wörterbuch geliehen, darin liegen gelbe Zettel. Links stehen Uhrzeiten, Monatsnamen, Sätze auf krakeligem Französisch, rechts die deutsche Übersetzung, in geschwungener Schrift. „Das hat das Mädchen im Internetcafé geschrieben“, erzählt Bamba. Sie kann Französisch und Deutsch, er geht immer zu ihr, wenn er ein wenig Geld übrig hat. 9,50 Euro bekommen die Jungs pro Tag, Frühstück gibt es im Hotel, die restlichen Mahlzeiten müssen sie sich selbst kaufen. Eine Stunde Internet kostet einen Euro.
Auf Bambas Schreibtisch steht eine halbvolle Tube Mayonnaise. „Ich mache mir abends Brot, das reicht vier Tage. Dann esse ich etwas Warmes im Restaurant, danach wieder Brot“, sagt er.
Dass Bamba weiß, wo ein Supermarkt ist, wo das Internetcafé und wo andere Flüchtlinge, die wie er im Hotel darauf warten, von der deutschen Gesellschaft aufgenommen zu werden, darum hat sich Timky Matheso gekümmert. Der Dolmetscher arbeitet für den Jugendhilfeträger Prodialog. Früher hat die Einrichtung deutschen Familien geholfen, mit dem Leben zurechtzukommen. Weil die Mitarbeiter Persisch, Französisch und Spanisch sprechen, helfen sie nun jungen Flüchtlingen. Solange die Jugendlichen noch nicht im Heim sind, werden sie ambulant betreut. 24 Stunden im Monat gewährt das Jugendamt, doch die sind schnell um: der Gang zum Ausländeramt, Kleidung kaufen, Busfahrpläne erklären, das alles braucht Zeit, wenn man weder Deutsch kann, noch deutsche Regeln kennt.
Das Schlimmste sei die Langeweile
Die Regeln vom Jugendheim „Maria im Tann“ kann jeder auf dem Weg zur Küche nachlesen. An die Wohnzimmerwand ist ein Stundenplan gepinnt, der minutiös erklärt, was die Jugendlichen zu tun haben. Amadou fährt mit dem Finger über das Blatt, die linke Spalte zeigt neben dem Wort „Aufstehen“ eine Sonne, rechts in den Tagesspalten: 6:30 Uhr. „Mittagessen: 13 Uhr, Fernsehen: 15 bis 22:15 Uhr, Bett: 22:30 Uhr.“ Amadous Stimme dröhnt schon, wenn er nur leise vorliest, so tief ist sie. Der Siebzehnjährige ist kilometerweit über Ländergrenzen gelaufen, hat in marokkanischen Wäldern und Höhlen gelebt, damit er nicht mehr gefesselt und geschlagen wird. Eine Familie beschuldigte ihn, ihre Tochter aus einer Zwangsheirat entführt zu haben. Er sollte ihnen sagen, wo sie ist. Amadou liebte das Mädchen, aber mit ihrem Verschwinden hatte er nichts zu tun. Sein Vater starb im Krieg, „mich konnte niemand mehr beschützen“. Also ließ er seine Mutter und die beiden Schwestern zurück und floh.
Wie viel von diesen Geschichten stimmt, wie viel Schleuser den Jungs eingetrichtert haben und was sie in der Hoffnung auf schnelleres Asyl selbst hinzugedichtet haben, kann niemand nachprüfen. Fest steht: Ohne Grund haben sie ihre Familien nicht zurückgelassen.
Im „Maria im Tann“ nennen sie Amadou manchmal „den Professor“. Der Junge mit dem Silberkettchen am Arm und dem breitbeinigen Gang will nicht nur die Verben lernen, sondern auch, wie man sie konjugiert. Das Heim bietet zusätzliche Deutschkurse an, Sport und in den Ferien ein Filmprojekt, 24 Stunden am Tag werden sie betreut und gefördert. Das Schlimmste, sagt Amadou, sei im Hotel die Langeweile gewesen.
Erste Beschwerden der Hoteliers
Aachen hat schon reagiert. 54 neue Heimplätze schuf die Stadt, aber sie reichten nicht. Auch das Personal reicht nicht mehr. Die Jungs brauchen einen Vormund, 50 Mündel darf einer maximal haben. Die Kapazitäten sind ausgeschöpft und die Flüchtlinge teuer. 2,5 Millionen Euro hat die Unterbringung in Aachen im vergangenen Jahr gekostet, dieses Geld bekommt die Kommune vom Bundesverwaltungsamt zurück. Die 550000 Euro für zusätzliches Personal muss sie selbst aufbringen.
Um wenigstens das Unterbringungsproblem zu lösen, sucht die Stadt seit kurzem nach Immobilien. Sie will dort in Kooperation mit freien Trägern stationäre Wohngruppen einrichten. Aber Aachen ist eine Studentenstadt, der Wohnungsmarkt leergemietet.
Während die Stadt noch sucht, beginnen die Hoteliers, sich zu beschweren. Vor einigen Wochen kam eine Gruppe marokkanischer Jugendlicher nach Aachen. Aggressiv, unangepasst, unwillig, Regeln zu befolgen. „Es spricht sich herum, dass man als Flüchtling in Aachen im Hotel untergebracht wird“, sagt Peter Merschen von Prodialog. Das ziehe auch Jugendliche an, die mitnehmen, was geht, und dann weiterziehen. Eine Hotelbesitzerin berichtet, die Jungs hätten Freunde mit übernachten lassen, fünf Mann in einem Doppelbett, geraucht und geklaut. „Ich nehme nur noch Jugendliche, die Deutsch können, integriert sind und zur Schule gehen“, sagt die Frau.
Plötzlich riss der Flüchtlingsstrom ab
Aber auch auf einen Schulplatz müssen die Jugendlichen warten. „250 Schüler haben wir im vergangenen Schuljahr zusätzlich untergebracht“, sagt Schulrat Wolfgang Müllejans. Die Hauptschulen sind voll, es gibt eine Warteliste, 25 Jugendliche stehen momentan darauf. Das Schulamt versucht, mehr Plätze zu schaffen.
Aber niemand weiß, ob der Strom nicht plötzlich abreißt. So wie in Saarbrücken, als zu Ostern plötzlich kaum mehr Jugendliche ankamen. Nils Espenhorst vom „Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge“ beobachtet die Flüchtlingsströme. „Vermutlich hat die französische Polizei den TGV in Paris stärker kontrolliert“, sagt Espenhorst.
Wie man es trotzdem in diese Züge schafft, hat Nassir Rahimi auf seiner Flucht perfektioniert. An den Unterarmen des Afghanen baumeln Nietenarmbänder, Haarspray hält die Föhnfrisur in Form. An dem hübschen jungen Mann erinnert heute wenig daran, dass, wie er erzählt, die Taliban seinen Vater ermordeten, ihn rekrutieren wollten und er ohne Essen auf einem Schiff zwischen Italien und Griechenland im Mittelmeer dümpelte. Dreimal versuchte er, von Italien aus nach Deutschland zu kommen. Vor einem Jahr hat er es geschafft, kam ins Hotel und ins Jugendheim, dann wurde er 18.
Lotsen durch das Asylverfahren
Zwar könnte Jugendhilfe bis zum 21. Lebensjahr gewährt werden. Doch Nassir musste an seinem 18. Geburtstag seine Sachen packen und ins Asylbewerberheim ziehen. Er geht noch zur Schule, ans Lernen war im Heim nicht zu denken.
Prodialog argumentierte für ihn eine eigene Wohnung herbei, das „Café Zuflucht“ seinen Aufenthaltstitel.
Eine Sofaecke, ein langer Holztisch, im Zeitschriftenregal liegen neben dem „Spiegel“ auch „L’Afrique“ und „New African Woman“. Das Café wird vom Flüchtlingsverein Refugio betrieben, es arbeitet mit den Jugendlichen die Fluchtgeschichte auf und lotst sie durch das komplizierte Asylverfahren.
Als Minderjährige werden die Jugendlichen nicht abgeschoben, egal, ob ihnen Asyl gewährt wird oder nicht. Qua Gesetz nämlich müssten sie in der Heimat an einen Elternteil oder Verwandten übergeben werden - aber zu denen besteht meist kein Kontakt. Mit 18 fällt diese Hürde; dann gelten für sie die gleichen Regeln wie für erwachsene Flüchtlinge. Bessere Chancen haben sie, wenn sie schon Deutsch lernen und anfangen, sich zu integrieren. Auch deswegen ist es wichtig, dass sich an der Situation in Aachen etwas ändert. Dass die jungen Flüchtlinge nicht allein in Hotelzimmern hocken.
Einmal im Monat auf den Fußballplatz
Wie gut es funktionieren kann, zeigt sich an Hassen Ahmady*. Sein Betreuer vom „Café Zuflucht“ nennt ihn liebevoll „den Streber“. Der Afghane kam 2011, zu einer Zeit, in der das Maria im Tann vor allem deutsche Jugendliche aufnahm. Hassen war ein Exot. „Ich wollte mitlachen, aber ich habe nichts verstanden“, erzählt der drahtige junge Mann, der schweigt, wenn er nach seinem Fluchtgrund gefragt wird, aber gern joggt, „um den Kopf freizukriegen“.
Hassen lernte schnell Deutsch und schloss die Realschule als Klassenbester ab. An seinem Kleiderschrank hängt ein Foto, auf dem er stolz das Zeugnis in die Kamera hält. Hassen ist jetzt 17, das Maria im Tann organisierte ihm eine WG mit zwei anderen Afghanen, nur fünf Fußminuten vom Heim entfernt. Nachdem er auf seiner Flucht gelernt hat, wie man sich am besten unter einem Lastwagen festkrallt, lernt er hier, einen Haushalt zu führen. Seit September macht Hassen eine Ausbildung zum Physiklaboranten. Die Aachener Firma hat den Platz extra für ihn geschaffen.
Eine Ausbildung ist für Bamba, den jungen Ivoren im Hotel, noch weit weg. Ihm würden ein Platz in Heim und Schule reichen - und jetzt gerade noch ein paar Minuten auf dem Spielfeld.
Der Kunstrasen von Feld vier ist der Lieblingsort der Flüchtlinge. Einmal im Monat organisiert Prodialog für die Hotelkinder Hallenfußball, damit sie mal rauskommen. Die Gebühr zahlt Leiter Peter Merschen aus eigener Tasche, eineinhalb Stunden, dann ist Schluss.
Bambas Betreuer Timky Matheso hat sich im Tor aufgebaut und ruft: „C’est fini! Fini!“ Die zehn Jungs drehen kurz die Köpfe, aber als sie den dunkelhäutigen Mann entdecken, schauen sie lieber schnell weg. Bambas Kinn hängt hier nicht mehr auf seiner Brust, es ist nach vorn gereckt, mit den Armen wedelt er wild, seine Mitspieler sollen weiter nach vorn rücken. Bamba kickt den Ball zu Omar, aber statt auf dessen Fuß prallt er mit voller Wucht auf an Omars Schulter ab. Omar flucht, Bamba kann nur noch lachen. Das erste Mal seit Monaten.
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