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Ungarns Trauma

Morgen ist der 4. Juni, ein wichtiger Tag der europäischen Zeitgeschichte. Rings a bell? Wenn nicht, dann erzähle ich Ihnen heute etwas dazu. Es wird um Allmachtsfantasien gehen, um Geschichtsrevision und - as usual - um Geld.

"Weil du nicht vergessen kannst! Niemals!" ist das Motto der großen Parade, die am morgigen Samstag durch Budapests Straßen ziehen soll, am nationalen Trauertag. Der "ungarischen Tragödie" müsse gedacht, die ethnische Zugehörigkeit geschützt werden, schreiben die Veranstalter online. Zum 102. Mal jährt sich die Unterzeichnung des Vertrags von Trianon.

Am 4. Juni 1920 wurde die Niederlage des Ersten Weltkriegs besiegelt, mit neuen Grenzen für das vormalige K.u. K-Reich. Während Österreich schon 1919 in Saint-Germain seine Gebiete absteckte (oder abgesteckt bekam), luden die Alliierten die ungarische Delegation ein Jahr später ein, in den Pariser Vorort Trianon. Deutsch-Westungarn, das heutige Burgenland, sollte an Österreich gehen. Und auch sonst stiegen die Ungarn schlecht aus: Zwei Drittel ihrer Gebiete verloren sie an andere Länder, an die Ukraine, Rumänien, Slowakei und Serbien.

Seit dem Jahr 2010, als der selbsternannte "illiberale" Regierungschef Viktor Orbán die Macht ergriff, ist Trianon ein geflügeltes Wort im politischen Diskurs. Der "Westen" habe Ungarn schon vor mehr als 100 Jahren erniedrigt. Und er würde es immer noch tun, das ungarische Volk müsse sich wehren. Trianon, das ist Ungarns Opfermythos, konstitutiv für die nationale Identität.

Erfahrbar wird das etwa in sämtlichen öffentlichen Reden Orbáns. Da hat Ungarn plötzlich 15 Millionen Einwohner, nicht knappe 10 Millionen wie auf Wikipedia. Der Grund: In den 1920 abgetretenen Gebieten leben bis heute viele Magyaren, in Rumänien etwa 1,3 Millionen, im ukrainischen Transkarpatien 150.000. Und diese ungarischen Minderheiten - so die Identitätspolitik von Orbáns Fidesz-Partei - gehören immer noch zu "Groß-Ungarn" dazu.

Aus ideologischer Überzeugung schenkte ihnen der Staatschef 2010 das Wahlrecht. Seitdem pumpt die ungarische Regierung fleißig Geld in die Regionen, in ungarische Schulen, Fußballclubs, Kirchen und Theater. Im Jahr 2018 flossen etwa 148 Millionen Euro ins ungarischsprachige Szeklerland in Rumänien. Wie auch im eigenen Land sind die Medien der Szekler unter Orbáns Kontrolle, vollständig von Budapest finanziert. Diese Großzügigkeit wird Orbán an der Wahlurne gedankt: Die ungarischen Minderheiten wählten bei den Parlamentswahlen Anfang April mehrheitlich Fidesz.

Dass mit einem gekränkten Mann und dessen nationalem Ego nicht zu spaßen ist, lehrt uns die politische Realität. Seit Ausbruch des Ukraine-Kriegs kokettiert Orbán mit der Rolle als Putins Freund in Europa. Das hilft einerseits dem innenpolitischen Wählerfang: Die EU würde immer gegen Ungarn agieren, so die Rhetorik. Orbán müsse die nationalen Interessen mit Boxhandschuhen verteidigen.

Andererseits spielt die ideologisch-nostalgische Nähe zu Putin die entscheidende Rolle. Erst das Ölembargo, jetzt bremst Ungarn wegen des Oberhaupts der russisch-orthodoxen Kirche, Patriarch Kyrill, EU-Sanktionen aus. Viele in der Fidesz-Partei finden, der Ukraine geschehe es schon recht. Die Russen holten sich zurück, was ihnen gehöre. So wie das ukrainische Transkarpatien, das ja eigentlich Groß-Ungarn sei. Trotzdem einen schönen Abend wünscht,

Lina Paulitsch

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