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ARTE Info: Bezahlbares Wohnen

Was kann der Staat? Ein Blick ins „Rote Wien“


"Während man in Berlin gegen private Investoren am Wohnungsmarkt protestiert, feiert Wien sich selbst für 100 Jahre Sozialen Wohnbau. Die Stadt Wien ist die größte kommunale Immobilieneigentümerin Europas. Wie kommt das? Kann man von Wien lernen?

 

Für den individualistisch verfassten Westen ist es harter Tobak, der Begriff „Enteignung“. Das Eigene ans Fremde zu verlieren, gar sein Eigentum abzutreten, diese Angst haben heute offenbar viele. Ein Volksbegehren, das ab 6. April in Berlin startet, erregt deshalb schon vorab mediale Aufmerksamkeit: Die Initiatoren fordern, private Immobilienunternehmen zu enteignen und die Wohnungen zu „vergesellschaften“. Nicht der Markt, sondern der Staat solle für leistbares Wohnen zuständig sein, Mietpreise regulieren und damit ein Grundbedürfnis menschlichen Lebens sichern. 

 

Die Berliner Initiative trifft einen Nerv. In den letzten zehn Jahren sind in Deutschland die Mietpreise um 60% gestiegen, regelmäßig wird in europäischen Medien über den „Mietenwahnsinn“ geklagt, in Talkshows nach dem „Menschenrecht Wohnen“ gefragt. Und die deutsche Justizministerin Katharina Barley bezeichnete bezahlbares Wohnen als „soziale Frage unserer Zeit“. Kern der Debatte ist: Wie weit soll der Staat eingreifen? Welche politischen Maßnahmen sind nötig, um die explodierenden Immobilienpreise einzudämmen? 

 

Trägheit statt Kalkül?

 

In der Diskussion wirft man gerne einen Blick nach Wien, in die Hauptstadt Österreichs. Dort sind die Mietpreise relativ erschwinglich: Pro Quadratmeter zahlt man im Schnitt 9,60 Euro, gegenüber 26 Euro in Paris, oder 16,50 Euro in München. "Das hat vor allem damit zu tun, dass in Wien 46% des Wohnungsbestandes nicht marktkonform vergeben wird", sagt Walter Matznetter, Professor für urbane Raumforschung an der Universität Wien. Das bedeutet, dass ein großer Teil der Wienerinnen und Wiener in sogenannten Gemeindebauten, also Sozialwohnungen, oder anderen staatlich geförderten Häusern lebt.

 

Während in Deutschland in den 1990er-Jahren ein Großteil der Sozialwohnungen an profitsuchende Privatinvestoren verkauft wurde, gilt die Stadt Wien nach wie vor als größte Immobilieneigentümerin Europas: Insgesamt 220.000 Wohnungen gehören der Stadt, weitere 200.00 wurden kommunal finanziert. Groß angelegte Privatisierungen blieben aus. Eine ausgefeilte Strategie der Stadtplaner? "Das ist wahrscheinlich einfach auf die Trägheit der Österreicher zurückzuführen. Übrigens ein Spezifikum jeder österreichischen Reform", sagt Forscher Walter Matznetter. Zumindest ein Teil der Erklärung, die Wiener Stadtregierung sieht dahinter mehr Absicht. SPÖ-Bürgermeister Michael Ludwig bezeichnet heute den Gemeindebau Karl-Marx-Hof als "Wahrzeichen der Stadt".

 

Der Karl-Marx-Hof ist der berhmteste Gemeindebau Wiens Er wurde zwischen 1926 und 1933 erbaut Architekt Karl Ehn war ein Schler von Otto Wagner berhmter Vertreter des Jugendstils
Der Karl-Marx-Hof ist der berühmteste Gemeindebau Wiens. Er wurde zwischen 1926 und 1933 erbaut. Architekt Karl Ehn war ein Schüler von Otto Wagner, berühmter Vertreter des Jugendstils.
© Thomas Ledl

 

Exkurs ins "Rote Wien": ein politisches Gesamtkonzept

 

Mehr Staat, weniger Markt – in Wien scheint das beim Thema Wohnen zumindest teilweise zu gelten. Das ist historisch gewachsen: In diesem Jahr feiert man das 100-jährige Jubiläum des sogenannten „Roten Wiens“, eine Phase politischer Reformprojekte zwischen 1919 und 1934. 

 

In der Zwischenkriegszeit regierte die Sozialdemokratische Arbeiterpartei in Wien mit absoluter Mehrheit. Sie reagierte erstmals auf die Bedürfnisse der ärmlichen Arbeiter und Arbeiterinnen, die von der Industrialisierung in die Stadt geschwemmt worden waren. Ende des 19. Jahrhunderts war es in ganz Europa zu einem enormen Zuzug in die Städte gekommen, Fabriken und Arbeitsplätze lockten in Ballungszentren. Die tausenden Arbeiter konnten sich vor allem eines nicht leisten: Wohnraum.

 

Hinter dem sozialen Wohnbau stand eine konkrete Vision einer ‚neuen‘ Gesellschaft: Einer neuen Welt mit einem ‚neuen Menschen‘
Werner T. Bauer

 

"Es ging nach dem Ersten Weltkrieg aber um mehr, als nur Wohnraum zu schaffen. Es war ein ideologisches Gesamtkonzept", sagt Werner T. Bauer, der seit 2010 gemeinsam mit Lilli Bauer das Museum "Waschsalon – das Rote Wien" im Karl-Marx-Hof kuratiert. "Hinter dem sozialen Wohnbau stand eine konkrete Vision einer 'neuen' Gesellschaft: Einer neuen Welt mit einem 'neuen Menschen', der sowohl fit, tüchtig und gesund war, wie auch geistig gebildet und selbstständig denkend. Das war ein Unterschied zum Sozialwohnungsbereich in Großbritannien oder Frankreich."

 

Zwischen 1923 und 1934 wurden über 60.000 Wohnungen von der sozialdemokratischen Stadtregierung errichtet. Die meisten der 380 Gemeindebauten waren als "Stadt in der Stadt" angelegt, die mit eigener Infrastruktur sämtliche Lebensbereiche verbinden und den Alltag erleichtern sollten. Veranstaltungssäle, Bibliotheken, Kindergärten, Arztpraxen, Kaffeehäuser und Waschsalons gehörten zu den Einrichtungen, die für die Bewohner der Anlagen mitgedacht wurden. In großen Innenhöfen sollte der "neue Mensch" seinen Körper stählen, in der Bibliothek neues Wissen erwerben – beides, um für den Kampf mit der bürgerlichen Elite gewappnet zu sein.

 

Die Bcherei des Sandleitenhofs im 16 Bezirk Im Handbuch fr Bibliothekare gab die Partei Lektreempfehlungen naheliegend Karl Marx Das Kapital von konservativem Einfluss wurde hingegen abgeraten Karl Mays Winnetou
Die Bücherei des Sandleitenhofs im 16. Bezirk. Im Handbuch für Bibliothekare gab die Partei Lektüreempfehlungen (naheliegend: Karl Marx' "Das Kapital"), von konservativem Einfluss wurde hingegen abgeraten (Karl Mays "Winnetou").
© Thomas Ledl

 

Um die sozialpolitischen Maßnahmen zu finanzieren, installierte die Sozialdemokratische Partei ein relativ simples Programm: Steuern für Reiche und auf deren Luxus, etwa Champagner, Pferderennen und Bordell-Besuche. Durch die Steuereinnahmen konnte man es sich leisten, Mietpreise sehr niedrig zu halten, Platz für Grünflächen zu lassen und die eigenen Errungenschaften werbewirksam für die nächste Wahl zu inszenieren. Im Wohnbau formulierte sich die ganz allgemeine, politische Frage: Wie leben? 

 

Dass die Antwort hierauf umstritten war, verdeutlicht der Bürgerkrieg 1934, der das „Rote Wien“ für beendet erklärte. Die diktatorischen Austrofaschisten setzten die Stadtregierung ab, das umverteilende Steuersystem wurde aufgehoben und der soziale Wohnbau erst nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgenommen. 

 

Bis heute leben 500.000 Menschen, also 25% aller Wiener, in Gemeindebauten, viele der Waschsalons und Kindergärten bestehen bis heute. Dementsprechend groß ist die soziale Durchmischung: Ökonomisch Bedürftige werden zwar bevorzugt, jeder und jede kann sich aber bei der Stadt Wien für eine Wohnung anmelden. Das hat durchaus Vorteile: „So entstehen keine Ghettos mit einer sozialen Eigendynamik, wie die Pariser Banlieues“, erklärt Walter Matznetter. 

 

Bei seiner Erffnung 1930 verfgte der Karl-Marx-Hof ber 1382 Wohnungen fr rund 5000 Menschen
Bei seiner Eröffnung 1930 verfügte der Karl-Marx-Hof über 1382 Wohnungen für rund 5000 Menschen. 
© Waschsalon Karl-Marx-Hof
Alle Wohnungen verfgten ber ein eigenes WC fr Krperpflege und Wsche gab es zwei Waschsalons Noch heute kann man dort Wsche waschen In den ehemaligen Duschrumen befindet sich seit 2010 die Dauerausstellung Waschsalon - Das Rote Wien
Alle Wohnungen verfügten über ein eigenes WC, für Körperpflege und Wäsche gab es zwei Waschsalons. Noch heute kann man dort Wäsche waschen. In den ehemaligen Duschräumen befindet sich seit 2010 die Dauerausstellung "Waschsalon - Das Rote Wien". 
© Waschsalon Karl-Marx-Hof

 

Ein zweites "Rotes Wien"?

 

Wenn man in Berlin die "Vergesellschaftung“ des Immobilienmarktes fordert, stöbert man also ein Stück politischer Ideengeschichte auf. Enteignung, hohe Steuern, starker Staat – all das scheint längst vergangen, gemäß der neoliberalen Gesinnungsethik. „Ich glaube, dass diese - im besten Sinn gemeinte - 'paternalistische Obsorge' des Roten Wiens heute nicht mehr funktionieren würde“, sagt Werner T. Bauer. Staatliche Intervention bedeute eben immer auch ein gewisses Maß an Bevormundung. In individualistischen Zeiten weniger en vogue.

 

Und selbst bei den Wiener Mietern, die früher ihre Dankbarkeit für eine Gemeindewohnung in der Wahlurne verbrieften, zählen längst andere Themen. "Gerade die Menschen, die vom Gemeindebau profitieren, wählen in den letzten Jahren verstärkt rechtspopulistische Parteien, wie die FPÖ", so Bauer. Das Thema Migration wird auch von den Sozialdemokraten in den Vordergrund gestellt, Sozialpolitik vernachlässigt.

Mein persönlicher Favorit ist der gemeinnützige Sektor: Wohnbauträger mit Steuervorteilen, die nur wenig Gewinn machen dürfen.
Walter Matznetter, Universität Wien
Der Gemeindebau ist Kult auch unter Knstlern Das Rabenhof-Theater gehrt zu einer der wichtigsten Kabarettbhnen Wiens
Der Gemeindebau ist Kult, auch unter Künstlern: Das Rabenhof-Theater gehört zu einer der wichtigsten Kabarettbühnen Wiens. 
© Häferl/Wikimedia Commons

Für ein zweites "Rotes Wien" hätten sich also die Ausgangsbedingungen fundamental geändert. Urbane Zentren sind bereits verbaut, Grundstückspreise teuer, die Sozialdemokratie in ganz Europa in der Krise. Forscher Matznetter sieht auch Alternativen: "Mein persönlicher Favorit ist der gemeinnützige Sektor: Wohnbauträger mit Steuervorteilen, die nur wenig Gewinn machen dürfen. Auf EU-Ebene gibt es dazu die ‚Non-Profit-Housing-Association‘ in Brüssel." Private Immobilienunternehmen, die nicht profitmaximierend denken – vielleicht ist das ein Kompromiss in der Wohnfrage, zwischen Markt und Staat. 

 

„Du bist die Blume aus dem Gemeindebau“, sang einst der österreichische Liedermacher Wolfgang Ambros, um einer Angebeteten den Hof zu machen. In Wien findet man das durchaus charmant. Vielleicht also doch ein Anreiz für andere Städte? Ein bisschen Kult ist er schon, der Wiener Gemeindebau.

 

 

Lina Paulitsch

 

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