CAPITAL: Die Grünen haben bei der Europawahl 20,5 Prozent erreicht und sind der Union (28,9 Prozent) dicht auf den Fersen. Wie erklären Sie diesen Wahlerfolg?
RALF FÜCKS: Vordergründig verdankt sich dieser Wahlerfolg der Tatsache, dass Klimawandel inzwischen die Priorität Nummer eins in der öffentlichen Wahrnehmung ist. Das zeigen auch die Umfragen nach den Themenpräferenzen für die Europawahl. Hier hat sich im letzten Jahr ein Bewusstseinswandel vollzogen. Nachdem Klimapolitik über Jahre eher ein Schattendasein geführt hat, ist sie jetzt ins Zentrum der Öffentlichkeit gerückt. Daran hat die kraftvolle außerparlamentarische Jugendbewegung Fridays for Future einen großen Anteil, aber auch eine Reihe neuer wissenschaftlicher Studien und die hohe Resonanz des Klimathemas in den Medien. Gleichzeitig gibt es noch andere Gründe, die den Erfolg der Grünen erklären.
Welche sind das?
Die Grünen repräsentieren den Zeitgeist der modernen Mittelschichten und sind inzwischen die urbane Partei par excellence. Die Europawahl bestätigt, dass die Städte eine Hochburg der Grünen geworden sind. Dabei geht es nicht nur um Klimawandel oder neue Mobilität, sondern auch um eine kosmopolitische Grundhaltung, eine liberale Einwanderungspolitik, um Gleichberechtigung von Frauen und ein multikulturelles Verständnis unserer Gesellschaft. Das ist eine gesellschaftliche Tiefenströmung, die jetzt politisch zum Ausdruck kommt. Ein zusätzlicher Grund für die aktuelle Stärke der Grünen ist natürlich auch die Schwäche der politischen Konkurrenten.
„In der Politik ist man immer nur relativ stark“
Was meinen Sie damit?
In der Politik ist man immer nur relativ stark. Die Grünen sind es aktuell auch deshalb, weil die SPD in einer tiefenstrategischen Krise steckt und eigentlich in alle politischen Himmelsrichtungen verliert. Die Union scheint wie gelähmt durch den lang anhaltenden Abgang von Angela Merkel. Programmatisch ist der Akku der Union leer, die Partei macht ideell einen völlig ermatteten Eindruck. Die FDP hat seit der Bundestagswahl die Hälfte ihrer Wähler eingebüßt. Dagegen erscheinen die Grünen als frische Kraft.
Sind die Grünen mit ihren 20 Prozent denn jetzt eine Volkspartei?
Sicher nicht im traditionellen Sinne, dazu sind sie immer noch zu stark eine Milieupartei. Aber: Dieses Milieu, die urbane Mittelschicht, ist groß. Man kann sogar sagen, dass es in der Bundesrepublik kulturell dominant ist. Die Grünen haben in vielen Fragen inzwischen die kulturelle Hegemonie. Es ist ihnen gelungen, durch ihre Regierungsarbeit in den Ländern und Kommunen ihre Wählerbasis zu vergrößern. Das geht von Start-up-Unternehmern bis zur großen umweltbewegten Mittelschicht. Unter den Jungen sind sie die Mehrheitspartei. Das ist ja ein frappierendes Ergebnis, dass die Grünen bei den 18- bis 30-Jährigen mehr Stimmen bekommen haben, als SPD und Union zusammen. Man kann sich ausmalen, was das für die Zukunft bedeutet.
„Die Grünen stehen vor einem Rollenwechsel“
Wie sind die Grünen auf ihren Erfolg vorbereitet?
Die Grünen stehen vor einem Rollenwechsel, den sie in manchen Bundesländern schon vollzogen haben. Sie können nicht mehr nur Agenda-Setting betreiben, also ihre Themen auf die politische Tagesordnung und damit die Anderen unter Druck setzen. Sie kommen jetzt in eine Rolle, in der sie Verantwortung für die Republik übernehmen müssen. Da gibt es aus meiner Sicht noch deutlichen Nachholbedarf, vor allem was Wirtschafts- und Technologiepolitik und eine Politik des sozialen Zusammenhalts betrifft. Es wird eine spannende Frage, ob die Grünen es schaffen werden, ihre ökologische Entschiedenheit mit einer Politik zu verbinden, die Nachhaltigkeit auf allen drei Feldern – also Ökologie, Wirtschaft und Soziales – zusammenbringt. Wenn man diese Felder gegeneinander ausspielt, ist die Gefahr eines Rückschlags groß.
Kritiker werfen den Grünen vor, dass sie bestimmte radikale Positionen nur vertreten können, weil sie in der Opposition sind. Wie umsetzbar sind viele Vorschläge der Grünen wirklich?
Will man Vorhaben wie eine ökologische Steuerreform mit steigenden Preisen für CO2 und einer Verlagerung von Lohn- und Einkommenssteuern auf Ressourcensteuern umsetzen, braucht es parteiübergreifende, langfristige Mehrheiten. Bürger und Unternehmen müssen sicher sein, dass sie nicht bei der nächsten Bundestagswahl wieder revidiert werden. Deshalb müssen grundlegende Weichenstellungen parteiübergreifend mitgetragen werden, so wie bei der Energiewende.
Droht den Grünen möglicherweise eine Entzauberung, wenn Sie auf Bundesebene in Regierungsverantwortung kommen sollten?
In vielen Kommunen und Landesregierungen stecken die Grünen bereits voll in der politischen Verantwortung. Das ist tatsächlich ein Stück Entzauberung, weil sich dann radikale Rhetorik an praktischer Politik messen muss. Man muss Kompromisse zwischen widerstreitenden Interessen schließen, Rücksicht auf finanzielle Handlungsspielräume nehmen und auf den rechtlichen Rahmen achten. Politischer Realismus hat den Grünen nicht geschadet. Wir sind jetzt an einem Punkt, an dem wir in vielen Fragen neue Antworten brauchen. Welches Europa wollen wir? Wie weit sind wir bereit, in den Zusammenhalt der Eurozone zu investieren? Was heißt europäische Solidarität für die Bundesrepublik, wenn es um die Verteidigungs- und Sicherheitspolitik geht? Letzteres ist eine Frage, vor der sich die Grünen bisher gedrückt haben.
Sie sagen, dass die Klimapolitik die Wahl in Deutschland maßgeblich beeinflusst hat. Ist das nicht ein Gutwetter-Thema? Was passiert, wenn die Wirtschaft schwächelt?
Die Klimafrage wird nicht verschwinden, sie wird dramatischer. Aber gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten muss man zeigen, dass man Ökologie nicht auf Kosten von wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit betreibt, sondern umgekehrt: Dass ökologische Erneuerung eine Chance ist für wirtschaftliche Modernisierung, für Innovation, für die Produkte und Technologien von Morgen. Deshalb ist mir ein großes Anliegen, dass wir Ökologie nicht primär als Frage der Einschränkung, von Verbot und Verzicht definieren, sondern als einen Aufbruch in die Industriegesellschaft des 21. Jahrhunderts. Es geht um eine grüne industrielle Revolution. Das ist die große Herausforderung, an der sich nicht nur der Erfolg der Grünen entscheiden wird, sondern letztlich auch die Frage, ob wir dem Klimawandel erfolgreich begegnen können.
„Die grüne Transformation hat längst begonnen“
Sie haben 2013 ein Buch über grünes Wachstum veröffentlicht. Was bedeutet das genau?
Im Kern geht es um die Entkopplung von Wohlstandsproduktion und Naturverbrauch. Wirtschaftswachstum ist eine globale Tatsache, das wird sich auch in den nächsten Jahrzehnten mit einer wachsenden Weltbevölkerung und dem Aufstieg von Milliarden Menschen in eine moderne Lebensform nicht ändern. Es wird also darauf ankommen, dass wir wirtschaftliches Wachstum nicht mehr durch Raubbau an der Natur, sondern durch intelligente, umweltfreundliche Technologien und Produkte erreichen. Das wäre tatsächlich eine Revolution, weil Wohlstandssteigerung bisher mit wachsenden Emissionen, Landschaftsverbrauch, Zunahme von Abfall und mit dem Verbrauch knapper Ressourcen einhergeht. Wir müssen die Kurve kriegen zu einer Ökonomie, die vollständig auf erneuerbaren Energien, nachwachsenden Rohstoffen, synthetischen Kraftstoffen und auf Koproduktion mit der Natur aufbaut.
Für wie realistisch halten Sie, gerade jetzt, wo die Grünen auf Erfolgskurs sind, die Umsetzung dieser Vorschläge?
In vielen Bereichen hat die Transformation längst begonnen. Ich hätte mir vor ein paar Jahren nicht träumen lassen, dass heute etwa die Stahlindustrie ernsthaft über CO2-neutrale Produktion nachdenkt oder dass die Chemieindustrie nicht mehr nur in Hochglanzbroschüren über Nachhaltigkeit spricht, sondern ihre gesamten Produktionsprozesse auf den Prüfstand stellt. In vielerlei Hinsicht ist die Industrie heute schon weiter als die Öffentlichkeit wahrnimmt, etwa bei dem Thema Wiederverwertung von Rohstoffen oder bei der Umstellung von CO2-intensiven Produktionsprozessen auf synthetischen Wasserstoff, der aus erneuerbarem Strom gewonnen wird. Das sind Themen, an denen längst geforscht wird und wo Pilotprojekte im Gang sind. Es gibt eine große Kluft zwischen der öffentlichen Wahrnehmung, dass in Sachen Klimafreundlichkeit nichts passiert, und vielen Unternehmen, die längst an solchen Lösungen arbeiten. Ich glaube, dass den Grünen hier eine große Verantwortung als Mittler zwischen diesen Welten zukommt.
„Die Grünen müssen an ihrer Dialogfähigkeit arbeiten“
Wie nachhaltig wird der Erfolgskurs der Grünen sein? Profitiert die Partei nur von der aktuellen Stimmung oder ist das der Anfang einer grünen Revolution?
Was sicher bleiben wird, ist der Druck der ökologischen Frage auf die gesamte Politik. Das ist nicht mehr nur eine Nischenfrage. Sie verändert unser Finanz- und Steuersystem, unsere Innovations- und Verkehrspolitik. Die ökologische Frage ist zu einer Querschnittsfrage geworden, die noch an Dringlichkeit gewinnt. Insofern ist der grüne Höhenflug keine Eintagsfliege. Allerdings ist nicht ausgemacht, wie lange die Grünen in dieser Hinsicht noch eine faktische Monopolstellung haben werden. Aus ökologischer Sicht kann man sich ja nur wünschen, dass die anderen Parteien nicht nur aufschließen, sondern eigenständige, alternative Vorstellungen entwickeln. Davon wird für die Union und die SPD auch abhängen, ob es ihnen noch einmal gelingt, bei der jüngeren Generation Boden zu gewinnen – oder ob die Zeit über sie hinweggeht.
Was können die Grünen konkret tun, um ihren Erfolgskurs zu halten?
Zum einen müssen sie an ihrer Dialogfähigkeit mit anderen gesellschaftlichen Milieus arbeiten. Dazu gehört Offenheit und Zuhören, auch gegenüber gesellschaftlichen Gruppen, die den Grünen noch mit Skepsis begegnen. Ob in der ökologischen Frage oder in der Einwanderungspolitik – es geht darum, Vertrauen zu bilden. Und Vertrauen bildet man nur durch dialogische Politik, nicht durch Rechthaberei. Die zweite Antwort wäre, dass die Grünen stärker an der Konvergenz von Umweltschutz, Wirtschaft und sozialer Teilhabe arbeiten müssen. Eine entschiedene Umweltpolitik muss kein Widerspruch zu einer erfolgreichen Wirtschaftspolitik sein. Dazu gehört auch die Rücksicht auf die soziale Situation von Menschen, die um die Zukunft ihrer Arbeitsplätz fürchten oder als Pendler besonders betroffen sind von Restriktionen gegen Dieselfahrzeuge. Es braucht diesen Dreiklang, wenn die Grünen dauerhaft erfolgreich sein wollen.
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